Jean-Dominique Bauby

Schmetterling und Taucherglocke

Jean-Dominique Bauby wurde 1952 geboren. Er machte eine rasche Karriere als Journalist und war zuletzt Chefredakteur der Zeitschrift ELLE in Paris. Durch einen Gehirnschlag vollstandig gelahmt, verbrachte er die letzten Monate seines Lebens in einem Spezialkrankenhaus in Berck-sur-Mer, wo er auch Schmetterling und Taucherglocke diktierte. Er starb wenige Tage nach der Veroffentlichung seines Buches in Frankreich, am 9. Marz 1997. Ein Teil der Einnahmen aus dem Buch geht seiner Verfugung gema? an eine Stiftung fur L.I.S.-Patienten.

Prolog

Hinter dem von Motten angenagten Vorhang kundigt eine milchige Helligkeit das Morgengrauen an. Mir tun die Fersen weh, mein Kopf drohnt wie ein Ambo?, und eine Art Taucheranzug schlie?t meinen ganzen Korper ein. Mein Zimmer tritt langsam aus dem Halbdunkel. Ich betrachte ausfuhrlich die Fotos meiner Lieben, die Kinderzeichnungen und Poster, den kleinen Radfahrer aus Blech, den mir ein Freund einen Tag vor dem Radrennen Paris-Roubaix geschickt hat, und den Galgen uber dem Bett, in dem ich seit sechs Monaten eingekapselt liege wie ein Einsiedlerkrebs auf seinem Felsen.

Ich brauche nicht lange nachzudenken, um zu wissen, wo ich bin, und um mich zu erinnern, da? mein Leben am Freitag, den 8. Dezember 1995 aus den Fugen geraten ist.

Bis dahin hatte ich nie etwas vom Hirnstamm gehort. An jenem Tag habe ich mit voller Wucht dieses Hauptteil unseres Bordcomputers entdeckt, die wesentliche Verbindung zwischen dem Gehirn und den Nervenenden, als ein Herz-Kreislauf-Zusammenbruch den besagten Stamm abschaltete. Fruher wurde das »Hirnschlag« genannt, und man starb ganz einfach daran. Der Fortschritt der Reanimationstechnik hat die Strafe verfeinert. Man ubersteht es, aber in einem Zustand, den die angelsachsische Medizin so treffend locked-in syndrome getauft hat: Von Kopf bis Fu? gelahmt, ist der Patient mit intaktem Geist in sich selbst eingesperrt, und das Schlagen des linken Augenlids ist sein einziges Kommunikationsmittel.

Naturlich erfahrt der Hauptbetroffene als letzter von seinem Gluck. Was mich betrifft, so hatte ich Anspruch auf zwanzig Tage Koma und einige Wochen Nebel, bevor ich das Ausma? der Schaden wirklich erfa?te. Erst Ende Januar bin ich im Zimmer 119 des Hopital maritime in Berck wiederaufgetaucht, in das jetzt die ersten Lichtstrahlen der Morgendammerung dringen.

Es ist ein gewohnlicher Morgen. Um sieben Uhr beginnt das Glockenspiel der Kapelle wieder jede Viertelstunde das Entschwinden der Zeit zu skandieren. Nach der nachtlichen Ruhepause fangen meine verschleimten Bronchien wieder an, laut zu rasseln. Meine verkrampft auf dem gelben Bettuch liegenden Hande tun mir weh, ohne da? ich entscheiden kann, ob sie hei? oder eiskalt sind. Um etwas gegen die Gelenksteife zu tun, lose ich eine Reflexbewegung aus, die Arme und Beine um einige Millimeter dehnt. Das reicht oft, um ein schmerzendes Glied zu entlasten.

Der Taucheranzug wird weniger druckend, und der Geist kann wie ein Schmetterling umherflattern. Es gibt so viel zu tun. Man kann davonfliegen in den Raum oder in die Zeit, nach Feuerland oder an den Hof von Konig Midas.

Man kann die geliebte Frau besuchen, sich neben sie legen und ihr noch schlafendes Gesicht streicheln. Man kann Luftschlosser bauen, das Goldene Flies erkampfen, Atlantis entdecken, seine Kindertraume und Erwachsenenphantasien verwirklichen.

Aber genug der Zerstreuung! Ich will ein Tagebuch meiner Reise auf der Stelle verfassen und mu? mir den Anfang ausdenken, bevor die Abgesandte meines Verlegers kommt, um ihn sich Buchstabe fur Buchstabe diktieren zu lassen. In meinem Kopf drehe und wende ich jeden Satz zehnmal, lasse ein Wort weg, fuge ein Adjektiv hinzu und lerne meinen Text Absatz fur Absatz auswendig.

Sieben Uhr drei?ig. Die diensthabende Krankenschwester unterbricht meinen Gedankengang. Nach einem eingespielten Ritual zieht sie den Vorhang auf, kontrolliert Luftrohrenschnitt und Tropf und stellt den Fernseher fur die bevorstehenden Nachrichten an. Vorerst erzahlt ein Zeichentrickfilm die Geschichte der schnellsten Krote der westlichen Welt. Wie war's, wenn ich ein Gelubde ablegte, damit ich in eine Krote verwandelt werde?

Der Stuhl

Noch nie zuvor hatte ich so viele wei?e Kittel in meinem kleinen Zimmer gesehen. Die Krankenschwestern, die  Pfleger, die Heilgymnastin, die Psychologin, der Ergotherapeut, die Neurologin, die Assistenzarzte und sogar der gro?e Chef, das ganze Krankenhaus hatte sich fur den besonderen Anla? herbegeben. Als sie hereinkamen und das Gerat an mein Bett schoben, dachte ich zuerst, ein neuer Mieter ergreife Besitz von dem Raum. Seit einigen Wochen in Berck, erklomm ich die Ufer des Bewu?tseins jeden Tag ein bi?chen hoher, aber ich verstand die Verbindung nicht, die es zwischen einem Rollstuhl und mir geben konnte.

Niemand hatte mir bisher ein genaues Bild von meiner Situation vermittelt, und aus hier und da aufgesammeltem Klatsch hatte ich mir die Gewi?heit zurechtgezimmert, da? ich sehr schnell Beweglichkeit und Sprache wiederfinden wurde.

Mein umherschweifender Geist entwarf sogar tausend Plane: einen Roman, Reisen, ein Theaterstuck und die Kommerzialisierung eines von mir erfundenen Fruchtcocktails.

Fragen Sie mich nicht nach dem Rezept, ich habe es vergessen.

Sie haben mich sofort angezogen. »Das ist gut fur die Moral«, hat die Neurologin sentenzios gesagt. Nach dem gelben Nylonnachthemd hatte es mir tatsachlich Freude gemacht, wieder ein kariertes Hemd, eine alte Hose und einen formlosen Pullover anzuhaben, wenn es nicht so ein Alptraum gewesen ware, sie anzuziehen. Oder vielmehr sie nach allerhand Verrenkungen uber diesen schlaffen, aus den Fugen geratenen Korper gestreift zu bekommen, der mir nur noch gehorte, um mich zu qualen.

Als ich fertig angezogen war, konnte das Ritual beginnen.

Zwei Muskelmanner haben mich ohne viel Schonung bei den Schultern und den Fu?en gepackt, aus dem Bett gehoben und in den Rollstuhl gesetzt. Vom blo? Kranken war ich zum Behinderten geworden, so wie im Stierkampf der Novillero zum Torero wird, wenn er zum ersten Mal den Kampf mit einem gro?en, ausgewachsenen Stier wagt. Man hat mir nicht applaudiert, aber fast. Meine Betreuer haben mit mir eine Runde durch das Stockwerk gedreht, um zu uberprufen, ob die sitzende Haltung keine unkontrollierbaren Krampfe auslosen wurde, aber ich bin ruhig geblieben, ganz damit beschaftigt, die brutale Abwertung meiner Zukunftsperspektiven zu ermessen.

Man mu?te nur meinen Kopf mit einem Spezialkissen verkeilen, denn er pendelte hin und her wie bei den afrikanischen Frauen, denen man die Pyramide aus Reifen abgenommen hat, die seit Jahren ihren Hals in die Lange zog.

»Sie sind reif fur den Stuhl«, kommentierte der Ergotherapeut mit einem Lacheln, das seine Worte zu einer guten Nachricht machen sollte, wahrend sie in meinen Ohren wie ein Urteil klangen. Auf einmal sah ich die besturzende Realitat. So blendend wie ein Atomblitz. Scharfer als das Fallbeil einer Guillotine. Sie sind alle wieder gegangen. Drei Pfleger haben mich wieder ins Bett gelegt, ich mu?te an diese Gangster im film noir denken, die sich abmuhen, die Leiche des Storenfrieds, den sie gerade durchlochert haben, in den Kofferraum ihres Autos zu hieven. Der Stuhl ist wie ein Verlassener mit meinen Kleidern uber der Ruckenlehne aus dunkelblauem Plastik in einer Ecke stehengeblieben. Bevor der letzte Wei?kittel hinausging, habe ich ihm ein

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