Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Cafe International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag au?erdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Baume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande. Aber es wurde erst spat ruhig, denn neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.

Fur Frau Zalewski war der Friedhof ein sicheres Geschaft. Sie wies auf die gute Luft und den freien Ausblick hin und konnte dafur hohere Preise nehmen. Ihr standiges Wort bei Reklamationen war:»Aber meine Herrschaften, bedenken Sie doch – die Lage!«

Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefuhl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich bruhte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Stra?e gesprengt wurde, ich horte die Vogel singen in den hohen Friedhofsbaumen – sie sangen wie kleine, silberne Pfeifen des lieben Gottes zu dem leisen, su?en Gebrumm der melancholischen Drehorgeln vom Rummelplatz -, ich wahlte zwischen meinen paar Hemden und Strumpfen, als hatte ich zwanzigmal soviel, ich leerte pfeifend meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlussel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Madchens und der Telefonnummer.

Patrice Hollmann. Ein merkwurdiger Vorname – Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Wie weit war das schon wieder weg – fast vergessen im perlgrauen Rausch des Alkohols. – Wunderbar war das beim Trinken – es brachte einen rasch zusammen -, aber zwischen Abend und Morgen schaffte es auch wieder Zwischenraume, als waren es Jahre.

Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bucher. Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Tagsuber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Larm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Koster. Was man herankommen la?t, will man halten. Und halten kann man nichts – In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern abend irgendwo gelassen haben mu?te, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit funf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hatten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Kuche fur die Frau, und au?erdem noch ein Kind, dann ware ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten – wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte standig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war funfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde. Das war das Elend – fruher sackte man langsam ab, und es gab immer noch wieder Moglichkeiten, hochzukommen -, aber heute stand hinter jeder Kundigung sofort der Abgrund der ewigen Arbeitslosigkeit.

Ich versuchte mich leise herauszudrucken, aber es klopfte schon, und Hasse stolperte herein. Er fiel auf einen Stuhl:»Ich ertrage es nicht mehr…«

Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hande. »Denken Sie, schon wieder zwei Kundigungen im Geschaft. Der nachste bin ich, passen Sie auf, ich!« In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Korper. Eines Tages wurde er zusammenklappen, das sah man. Er hatte nicht mehr viel zuzusetzen. »Und immer diese Vorwurfe«, flusterte er.

Wahrscheinlich hatte die Frau ihm ihr Dasein vorgeworfen. Sie war zweiundvierzig, etwas schwammig und verbluht, aber naturlich noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlu?panik.

Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen. »Horen Sie, Hasse«, sagte ich,»bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich mu? weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mogen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute nachmittag mit Ihrer Frau doch mal 'raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebensoviel wie zwei Stunden im Cafe, und Sie haben mehr davon! Vergessen ist heute die Parole, nicht grubeln!« Ich klopfte ihm mit etwas schlechtem Gewissen auf die Schulter. Obschon, Kino war immer gut. Da konnte sich jeder was traumen.

Nebenan stand die Tur offen. Die Frau schluchzte, da? man es drau?en horen konnte. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nachste Tur war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfum kam heraus. Da wohnte Erna Bonig, Privatsekretarin. Viel zu elegant fur ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nachsten Tag sehr schlechter Laune. Dafur ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen konne, wolle sie nicht mehr leben, erklarte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld.

Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintanzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schlafen, wunderbarer Gitarrespieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. Nachste Tur. Frau Bender, Krankenschwester in einem Sauglingsheim. Funfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernahrung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige.

Daneben – Muller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftfuhrer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glucklicher Mensch.

An der letzten Tur klopfte ich. »Na, Georg«, sagte ich,»immer noch nichts?«

Georg Block schuttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu konnen, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch fur zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zuruck – da waren heute schon zuviel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler fur eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsaustrager und atmete schon auf. Drei Tage spater wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmutzen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklarten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hatten selbst genug Arbeitslose. Er ging trotzdem am nachsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen mussen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum drittenmal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. Da gab er es auf. Jetzt sa? er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und buffelte wie verruckt, als hatte es noch Zweck. Er a? einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in fruhestens zehn Jahren rechnen. Ich schob ihm ein Paket Zigaretten hin. »La? den Kram sausen, Georgie. Ich hab's auch getan. Kannst spater immer wieder anfangen.«

Er schuttelte den Kopf. »Ich hab's damals gemerkt, nach dem Bergwerk. Man kommt vollig 'raus, wenn man nicht jeden Tag dabeibleibt, und zum zweitenmal schaff' ich es nicht.«

Das blasse Gesicht mit abstehenden Ohren und kurzsichtigen Augen, die schmachtige Gestalt mit der eingefallenen Brust – verflucht -»na, mach's gut, Georgie.« Eltern hatte er auch nicht mehr.

Die Kuche. Ein ausgestopfter Wildschweinschadel. Erinnerung an den verstorbenen Zalewski. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortur mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch. »Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. Hatte sich was! War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Cafe International. Das International war ein gro?er, dunkler, verraucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. Er hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, als ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war.

In den hinteren Zimmern des Cafes hielten die Viehhandler ihre Versammlung ab; manchmal auch die Rummelplatzleute. Vorn sa?en die Huren.

Das Lokal war leer. Nur der plattfu?ige Kellner Alois stand hinter der Theke. »Wie immer?« fragte er.

Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schrag durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy gluhte wie ein Rubin.

Alois spulte Glaser. Die Katze des Wirtes sa? auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schlafrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Madchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich. »Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.

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