In der Entbindungsstation im vierten Stock konnte nie vorausgesagt werden, zu welcher Stunde des Tages es ruhig sein wurde. Babys, dachte Dr. Charles Dornberger, wahrend er sich neben zwei anderen Geburtshelfern die Hande wusch, hatten die lastige Angewohnheit, in Gruppen zu kommen. Es gab Stunden und selbst Tage, wahrend derer alles ordentlich und ruhig verlief und Kinder ordentlich eines nach dem anderen zur Welt gebracht werden konnten. Dann brach plotzlich der Teufel los, und ein halbes Dutzend wartete darauf, gleichzeitig geboren zu werden. Einer dieser Augenblicke war jetzt gekommen.

Seine eigene Patientin, eine dralle, ewig frohliche Negerin, stand im Begriff, ihr zehntes Kind zur Welt zu bringen. Weil sie spat in das Krankenhaus gekommen war und die Wehen schon weit fortgeschritten waren, hatte man sie von der Notaufnahme auf einem Wagen heraufgebracht. Wahrend Dornberger noch seine Hande burstete, konnte er einen Teil ihrer Unterhaltung drau?en mit dem Medizinalpraktikanten horen, der sie in die Abteilung hinauf begleitet hatte.

Anscheinend hatte der Praktikant den Personenaufzug unten im Erdgescho? von anderen Fahrgasten frei gemacht, wie es in dringe nden Fallen ublich war.

»Haben Sie wegen mir all die netten Leute aus dem Aufzug geschickt?« fragte sie. »So wichtig bin ich noch nie im Leben genommen worden.« Darauf horte Dornberger, wie der Praktikant ihr beruhigend zuredete, sie solle sich nicht aufregen. »Ich mich aufregen, mein Sohn?« antwortete sie. »Aber ich bin doch ganz ruhig. Ich bin immer ganz ruhig, wenn ich ein Baby bekomme. Das ist die einzige Zeit, wo ich mal nicht spulen mu?, und nicht waschen und kochen. Ich freue mich immer, hierherzukommen. Fur mich ist das wie ein Urlaub.« Sie schwieg, als Schmerzen nach ihr griffen, und murmelte dann zwischen zusammengepre?ten Zahnen: »Neun Kinder hab' ich schon. Das ist mein zehntes. Der alteste ist so gro? wie Sie, mein Sohn. Sie konnen mit mir auch im nachsten Jahr rechnen. Ich verspreche Ihnen, dann komme ich wieder.« Dornberger horte ihr Kichern verklingen, nachdem die Schwestern des Krei?saales sie ubernommen hatten, wahrend der Praktikant an seinen Platz in der Notaufnahme zuruckkehrte.

Und dann folgte Dr. Dornberger gewaschen, im Operationsanzug, steril, aber vor Hitze schwitzend, seiner Patientin in den Entbindungsraum.

In der Krankenhauskuche, wo die Hitze sich weniger druckend auswirkte, weil die Leute, die dort arbeiteten, an sie gewohnt waren, probierte Hilda Straughan, die Kuchenleiterin, ein Stuck Rosinenkuchen und nickte dem feisten Konditor anerkennend zu. Sie befurchtete zwar, die Kalorien aus der Kostprobe wurden sich zusammen mit anderen in einer Woche auf der Waage in ihrem Badezimmer zeigen, beruhigte ihr Gewissen aber damit, da? sie sich sagte, es gehore zu ihren Pflichten, von den Speisen der Krankenhauskuche so viele wie moglich zu kosten. Au?erdem war es fur Mrs. Straughan jetzt schon etwas spat, um sich noch wegen der Kalorien und ihres Korpergewichts Sorgen zu machen. Infolge zahlloser fruherer Kostproben zeigte ihre Waage gegenwartig rund zweihundert Pfund, von denen sich ein gro?er Teil in ihren prachtigen Brusten befand, Zwillingsvorgebirgen, die im ganzen Krankenhaus beruhmt waren und ihrem Gang die Majestat eines Flugzeugtragers, verliehen, dem zwei Schlachtschiffe als Geleit vorauslaufen.

Aber ebensosehr wie das Essen liebte Mrs. Straughan ihre Arbeit. Zufrieden sah sie sich um und uberblickte ihr Reich: die schimmernden Stahlherde und Serviertische, die glanzenden Kuchengerate, die schneewei?en Schurzen der Koche und ihrer Helfer. Bei diesem Anblick wurde ihr warm ums Herz.

Es war die arbeitsreichste Zeit in der Kuche. Das Mittagessen war die gro?te Mahlzeit des Tages, weil au?er allen Patienten der gesamte Stab des Krankenhauses in der Kantine verpflegt werden mu?te. In etwa zwanzig Minuten mu?ten die Tabletts mit den Speisen in die Krankenstationen hinaufgeschickt werden, und die anschlie?ende Ausgabe des Essens in der Kantine dauerte zwei Stunden. Dann begannen die Koche mit der Vorbereitung des Abendbrots, wahrend das Hilfspersonal das Geschirr spulte und aufraumte.

Der Gedanke an das Geschirr veranla?te Mrs. Straughan zu einem sorgenvollen Stirnrunzeln, und sie begab sich in den hinteren Teil der Kuche, wo zwei gro?e, veraltete Geschirrspulmaschinen standen. Dieser Teil ihres Reiches war weniger glanzend und modern als die anderen, und die Kuchenleiterin empfand nicht zum erstenmal, da? sie glucklich ware, wenn sie auch hier wie in der ubrigen Kuche eine Modernisierung durchsetzen konnte. Sie sah allerdings ein, da? nicht alles auf einmal geschehen konne, und mu?te zugeben, da? sie in den zwei Jahren, die sie ihre Stellung im Three Counties Hospital innehatte, der Krankenhausverwaltung eine ganze Menge kostspieliger neuer Anlagen abgezwungen hatte. Dessen ungeachtet entschlo? sie sich, wahrend sie weiterging, um die Warmplatten im E?saal zu kontrollieren, den Verwaltungsdirektor bald wieder wegen ihrer Geschirrspuler anzusprechen.

Die Kuchenleiterin war nicht die einzige Person in dem Krankenhaus, die ans Essen dachte. In der Rontgenabteilung, in der zweiten Etage, war ein ambulanter Patient - Mr. James Bladwick, Vizeprasident fur Verkauf bei einer der drei fuhrenden Autovertretungen in Burlington - nach seinen eigenen Worten >hungrig wie ein Wolfe.

Das hatte seinen Grund. Auf Anweisung seines Arztes hatte Jim Bladwick seit Mitternacht gefastet und befand sich jetzt im Rontgenraum Nr. 1, bereit zu einer Durchleuchtung der Verdauungsorgane. Die Rontgenstrahlen sollten den Verdacht, da? in Bladwicks Eingeweiden ein Zwolffingerdarmgeschwur wuchere, bestatigen oder widerlegen. Jim Bladwick hoffte, da? der Verdacht unbegrundet sei. Tatsachlich hoffte er inbrunstig, da? sich weder ein Geschwur noch etwas anderes verschworen hatte, ihn jetzt zu behindern, grade jetzt, da sein Eifer und seine Opfer der letzten drei Jahre, seine Bereitschaft, angestrengter und langer als jeder andere im Verkaufsstab zu arbeiten, sich endlich bezahlt machten. Gewi? hatte er Sorgen. Wer hatte keine, wenn man jeden Monat die Absatzquote einer Vertretung erfullen mu?te. Aber es durfte einfach kein Geschwur sein. Es mu?te etwas anderes sein, etwas Geringfugiges, das schnell in Ordnung gebracht werden konnte. Er war nicht langer als sechs Wochen Vizeprasident fur Verkauf, aber trotz des hochtrabenden Titels wu?te er besser als jeder andere, da? die Erhaltung dieser Stellung von seiner unverminderten Fahigkeit zu arbeiten abhing. Und um zu arbeiten, mu?te er auf der Hohe bleiben: zah, einsatzbereit, gesund. Kein arztliches Attest konnte eine sinkende Absatzkurve ausgleichen. Jim Bladwick hatte diesen Augenblick seit einiger Zeit hinausgeschoben. Es war vermutlich zwei Monate her, da? er Unbehagen und unbestimmbare Schmerzen in der Magengegend bemerkt und auch haufiges Aufsto?en, manchmal in den ungeeignetsten Augenblicken, wenn er mit Kunden verhandelte, beobachtet hatte. Eine Zeitlang versuchte er, sich einzureden, es handle sich um nichts Besonderes, aber schlie?lich hatte er arztlichen Rat gesucht, und die jetzige morgendliche Verabredung war das Ergebnis. Er hoffte allerdings, da? sie nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen wurde. Der Abschlu? mit Fowlers fur sechs Lastwagen stand kurz bevor, und er brauchte diesen Abschlu? dringend. Mein Gott, was hatte er fur einen Hunger!

Fur Dr. Ralf Bell, den leitenden Rontgenarzt - >Dingdong< nannten ihn die meisten Kollegen am Krankenhaus - bedeutete die Untersuchung nichts anderes als eine weitere Durchleuchtung der Verdauungsorgane, die sich von hunderten anderer in nichts unterschied. Diesmal entschlo? er sich aber, >ja< zu tippen und spielte damit mit sich selbst ein Spiel, wie er es manchmal tat. Dieser Patient war der Typ fur ein Geschwur. Durch seine Hornbrille mit den dicken Glasern hatte Bell seinen Patienten unauffallig beobachtet. Der sieht wie einer aus, der sich Sorgen macht, dachte Bell; offensichtlich kocht er jetzt schon. Der Rontgenarzt ruckte Bladwick hinter dem Leuchtschirm in die richtige Stellung und reichte ihm ein Glas mit Bariumbrei. »Wenn ich es Ihnen sage, trinken Sie das«, erklarte er.

Als er bereit war, befahl er: »Jetzt.« Bladwick leerte das Glas. Auf dem Leuchtschirm beobachtete Bell den Weg des Bariums, wie es zuerst durch die Speiserohre, dann in den Magen und von dort in den Zwolffingerdarm lief. Durch den undurchlassigen Brei abgehoben, lie?en die Rontgenstrahlen die Umrisse jedes Organs klar erkennen, und bei verschiedenen Stadien druckte Bell auf einen Knopf und hielt das Rontgenbild auf einem Film fest. Nun pre?te er auf den Leib des Patienten, um das Barium umherzubewegen. Dann konnte er es sehen: einen Krater im Zwolffingerdarm. Klar und unverkennbar ein Geschwur. Die Wette habe ich wieder mal gewonnen, dachte er. Laut sagte er: »Das ist alles, Mr. Bladwick. Ich danke Ihnen.«

»Nun, Doc, wie lautet Ihr Urteil? Bleibe ich am Leben?«

»Sie bleiben am Leben.« Die meisten wollten wissen, was er auf dem Bildschirm sah. »Zauberspiegel an der Wand, wer ist der Gesundeste im ganzen Land?« Es war allerdings nicht seine Aufgabe, diese Auskunft zu geben. »Ihr behandelnder Arzt erhalt morgen die Filme. Ich nehme an, er wird mit Ihnen sprechen.« Pech, mein Freund, dachte er, ich hoffe, Sie genie?en gern viel Ruhe und eine Diat aus Milch und weichen Eiern.

Zweihundert Meter vom Hauptgebaude des Krankenhauses entfernt, in einem vernachlassigten Gebaude, das fruher einmal eine Mobelfabrik gewesen war und jetzt den Schwestern als Wohnheim diente, hatte die Lernschwester Vivian Loburton Schwierigkeiten mit einem Rei?verschlu?, der sich nicht rei?en lassen wollte.

»Verflucht und zugenaht.« Sie redete den Rei?verschlu? mit den Worten an, die ihr Vater gern gebrauchte,

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