worden. Mit sechzehn zum Militardienst eingezogen, war er zwei Monate spater vor Marokko gefallen. Eine Kanonenkugel von einer franzosischen Fregatte hatte ihn zerfetzt. Von ihrer einzigen Tochter wusste Mutter Gant nur, dass sie als Hure in den Stra?en von Covent Garden und Haymarket ein erbarmliches Dasein fuhrte. Geblieben war ihr nur Eli, der Jungste, der bei ihr lebte. Es war jedoch zweifelhaft, ob er eine Trennung von seiner Mutter uberlebt hatte, denn mit zwanzig hatte Eli zwar die Statur eines Ringers, Oberarme so dick wie ein junger Eichenbaum und Pratzen wie ein Schmied, aber das Gehirn eines Sauglings. Unfahig, fur sich selbst zu sorgen und mehr als die einfachsten Arbeiten zu verrichten, war er nichts als der Sklave seiner verwitweten Mutter. Sie missbrauchte ihn als Lasttier und nutzte seine Korperkraft zu ihrem Schutz und zur Einschuchterung renitenter Kunden bei zwielichtigen Geschaften. Seiner Mutter zu dienen war Elis einziger Lebensinhalt und darum kam er dieser Pflicht bedingungslos nach.

Wahrend die Kinder in Panik zur Tur rannten, tauchte aus der dunklen Ecke, einen Knuppel in der Hand, der mondgesichtige Eli auf. Er hatte wie immer instinktiv auf den Schrei seiner Mutter reagiert. Denn er wusste, dass es Arger geben und sie seine Hilfe brauchen wurde. Das genugte ihm.

Hawkwood war der Suppenkelle geschickt ausgewichen. Ein Anflug von Belustigung erhellte seine finstere Miene, als das Kuchengerat von der Wand abprallte und klappernd zu Boden fiel. Als er jedoch dieses monstrose Wesen auf sich zukommen sah, wurde sein Gesicht grimmig. Entschlossen stellte er sich dieser neuen Gefahr.

»Halt ihn auf, Eli! Er will deiner Mutter wehtun!«, kreischte die alte Frau. Fur seine massige Gestalt griff Eli Gant erstaunlich rasch an.

Aber Hawkwood war schneller, wich dem Knuppel aus und trat Eli gleichzeitig hart zwischen die Beine. Eli klappte der Kiefer herunter, und er sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen. Schon hatte Hawkwood seinen Schlagstock in der Hand und verpasste Eli einen brutalen Hieb an die Schlafe. Der Boden aus festgestampftem Lehm schien zu beben, als der Koloss vollig zusammenbrach. Hawkwood betrachtete die keuchend nach Atem ringende, sich windende Gestalt und schuttelte mude den Kopf. Wie oft er das schon erlebt hatte!

Als er wieder aufblickte, war Mutter Gant verschwunden. Hawkwood fluchte, drehte sich um und bellte: »Rafferty!«

Sofort tauchte in der Tur ein stammiger Mann mit rotem Kopf und derben Gesichtszugen in der Uniform eines Constables auf: schwarzer Filzhut, zweireihiger blauer Rock mit dazu passender Weste. Verblufft betrachtete er die auf dem Boden liegende Gestalt und riss die Augen noch weiter auf, als Hawkwood daruber hinwegsprang, den Raum durchquerte und den verschlissenen Vorhang an der hinteren Wand beiseite zog. Hawkwood spahte in den dahinter liegenden dunklen Gang, horte ein leises schlurfendes Gerausch und sah dann in einiger Entfernung im schwachen flackernden Licht einer Laterne die geduckte, hastig dahineilende Gestalt. Mutter Gant hatte ihren schwachsinnigen Sohn im Stich gelassen und war auf der Flucht.

Hawkwood musste sich beeilen, denn es war nicht zu erkennen, wie lange der Tunnel war, wo er endete und wie viele Ausgange, Fallturen und verborgene Treppen es in diesem unterirdischen Gewirr aus Gangen zu den daruber liegenden schmalen Gassen gab. Und die alte Frau kannte dieses Labyrinth naturlich in- und auswendig.

Hawkwood blieb keine Zeit, sich eine Laterne zu besorgen, er musste einfach dem schwachen Lichtschein folgen. Schnell drehte er sich um, deutete mit dem Kopf auf den noch immer zusammengekrummt daliegenden Eli und befahl dem Constable barsch: »Pass auf ihn auf!« Dann umklammerte er fest seinen Schlagstock und verschwand in dem dunklen Loch.

Der Gestank war entsetzlich. Die feuchte, nach Verwesung riechende Luft raubte ihm den Atem und brannte in seinen Augen. Der Boden unter seinen Fu?en fuhlte sich fest an, aber immer wieder trat er in zahen Schlamm, der sich an seinen Stiefeln festsaugte. Mehr als einmal spitzte er die Ohren und horte das Piepen und Pfeifen der Ratten.

Er konnte nicht erkennen, woraus die Tunnelwande bestanden. Manchmal beruhrte er Ziegelsteine, dann wieder verrottetes Holz, das unter seinen Fingern zerbroselte. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten, entdeckte er Offnungen in den Wanden, Gabelungen zu noch mehr Fluchtwegen. Gelegentlich schimmerte durch einen Spalt in einer Wand ein Lichtschimmer, das Flackern einer Kerze, die anzeigte, dass in dieser seltsamen unterirdischen Welt au?er Ratten und Mausen noch andere, hoher entwickelte Schadlinge lebten. Und Witwe Gants flackernde Laterne zog ihn immer tiefer in diesen unterirdischen Irrgarten hinein.

Plotzlich erlosch das Licht vor ihm. Hawkwood blieb lauschend stehen, achtete, alle Sinne angespannt, auf die leiseste Bewegung und ging vorsichtig weiter. Er fragte sich, wie weit er in den Tunnel vorgedrungen war. Es kam ihm wie eine Meile vor, aber in der Dunkelheit lie? sich die Entfernung schlecht abschatzen. Wahrscheinlich war er nicht mehr als hundert Schritte gegangen, wenn uberhaupt.

Nur noch ein fahler Schein tief am Boden wies ihm jetzt den Weg. Vielleicht senkte sich der Tunnel dort, oder eine Treppe fuhrte hinunter. Plotzlich kam er an eine Biegung, blieb stehen und schloss die Faust noch fester um seinen Schlagstock.

Als er um die Ecke spahte, sah er die Laterne auf der Erde neben dem Schal der alten Frau stehen. Vorsichtig schlich er sich heran, buckte sich und griff nach dem Schal.

Wie eine Fledermaus flatterte in diesem Augenblick von der Wand ein Wesen auf ihn und stie? dabei einen tierischen Laut aus.

Hawkwood fuhr herum, lie? den Schal fallen und sah im Lichtschein eine Messerklinge aufblitzen. Er warf sich beiseite, das Messer zischte knapp an seinem Gesicht vorbei, und er horte die Alte wutend grunzen, weil sie ihr Ziel verfehlt hatte. Herrgott, wie schnell sie war! Schneller, als er fur moglich gehalten hatte. Doch Hass verlieh ihr zusatzliche Kraft. Schon holte sie wieder aus, stie? zu, und er fuhlte, wie die rasiermesserscharfe Klinge den Oberarmel seines Mantels aufschlitzte. Blitzschnell nahm er seinen Schlagstock in die linke Hand, wehrte damit das Messer ab und griff gleichzeitig mit der Rechten nach ihrem Handgelenk. Ihr Arm war nicht dicker als der eines Kindes, aber in ihrem gertenschlanken Korper steckte eine erstaunliche Kraft. Wahrend er mit der Rechten so fest zudruckte, dass sie das Messer fallen lie?, hob er den Schlagstock und schlug zu. Er horte das knirschende Gerausch brechender Knochen. Ihre Schmerzensschreie hallten von den Wanden wider.

Es war unglaublich! Die Alte gab sich noch immer nicht geschlagen. Wieder sturzte sie sich auf ihn, grapschte mit der linken Hand fluchend und spuckend, wie vom Teufel besessen nach seinem Gesicht und wollte ihm mit ihren scharfen Krallen die Augen auskratzen. Der Angriff war so heftig, dass er gegen die Wand prallte und keuchend nach Luft schnappen musste.

Mit einer Hand klammerte sie sich an ihn, trat um sich, spuckte und stie? immer wieder nach seinen Augen. Speichel rann ihm ubers Gesicht, er spurte ihren hei?en, widerlich stinkenden Atem auf seinen Wangen. Irgendwie musste er dem ein Ende bereiten. Er trieb ihr den Schlagstock in den Magen, spurte, wie sie ihren Griff an seinem Kragen lockerte, rammte ihr mit aller Kraft seine Faust in die Rippen und stie? sie von sich.

Mit einem dumpfen Gerausch prallte ihr Kopf gegen die Wand. Der Schrei erstarb ihr auf den Lippen, als ihr zierlicher Korper in sich zusammensackte. Mit verrenkten Gliedern, den Rock uber den Knien und nach Luft ringend lag sie da.

Hawkwood richtete sich auf und wischte sich den Speichel vom Kinn. »Verdammtes Miststuck!«, fluchte er.

Die verkrummte Gestalt zu seinen Fu?en stohnte leise.

Hawkwood steckte seinen Schlagstock wieder unter seinen Mantel und hob den Schal auf. Damit fesselte er Mutter Gants Handgelenke, ohne auf ihren gebrochenen Arm Rucksicht zu nehmen. Im matten Schein der Laterne sah er ihre vor Schmerz glasigen Augen. Jetzt war ihre Widerstandskraft endlich gebrochen. Dann griff er nach der Laterne, hielt sie hoch, packte die alte Frau am Kragen und zerrte ihren schlaffen Korper hinter sich her durch den Tunnel zuruck in die Herberge.

2

Constable Edmund Rafferty stand in der verdreckten Kuche. Er kratzte sich den Bauch und betrachtete die auf dem Tisch ausgebreitete, wertvolle Diebesbeute. Gleichzeitig hatte er ein wachsames Auge auf Eli Gant, der sich von dem Hieb erholt hatte und nun an der Wand lehnte. Er wiegte sich langsam von einer Seite zur anderen

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