Hal Clement

Unternehmen Schwerkraft

(1953)

1

Der Sturm fegte uber die Bucht. Er wuhlte die Oberflache so heftig auf, da? kaum noch zu unterscheiden war, wo Flussigkeit und Atmosphare i neinander ubergingen. Er versuchte Wogen aufzuturmen; unter denen die Bree zerbrochen ware, und verwandelte sie in harmlose Spritzer, bevor sie zwanzig Zentimeter hoch waren.

Nur die Spritzer erreichten Barlennan, der auf dem Achterflo? der Bree kauerte. Er hatte das Schiff an Land ziehen lassen, sobald er wu?te, da? sie hier uberwintern wurden; aber angesichts dieses Sturmes war ihm doch etwas unbehaglich zumute.

Die Brecher ubertrafen alles, was er bisher auf See erlebt hatte, und er fand wenig Trost bei dem Gedanken, da? der Mangel an Gewicht, der ihr Entstehen uberhaupt ermoglichte, auch verhindern wurde, da? sie gro?eren Schaden anrichteten.

Barlennan war keineswegs aberglaubisch, aber hier am Rand der Welt schien alles moglich zu sein. Selbst die Mannschaft, die sonst nicht leicht zu beeindrucken war, fuhlte sich in d ieser Umgebung sichtlich unwohl. Hier sei es nicht geheuer, murmelten sie untereinander – wer konne schon beurteilen, was jenseits des Randes auf sie lauere?

Nach jedem Unfall wurde das Gemurmel lauter, und Unfalle waren nicht gerade selten. Der Kommandant war sich daruber im klaren, da? schlie?lich jeder, der plotzlich statt funfhundertfunfzig Pfund nur noch zweieinviertel wog, einen Fehltritt tun konnte; aber offenbar brauchte man ein gewisses Ma? an Bildung oder zumindest die Fahigkeit zu logischem Denken, um diese Tatsache berucksichtigen zu konnen.

Selbst Dondragmer, der es eigentlich besser wissen mu?te… Barlennans langer Korper straffte sich, und er hatte fast einen Befehl gebrullt, bevor er wirklich erfa?te, was auf dem ubernachsten Flo? vorging. Der Maat wollte offenbar die Spanntaue eines Mastes uberprufen und nutzte die extrem niedrige Schwerkraft aus, um sich fast zu voller Lange aufzurichten. Es war noch immer ein phantastischer Anblick, ihn in dieser Stellung auf sechs Hinterbeinen balancieren zu sehen, obwohl die Mannschaft der Bree sich allmahlich an derartige Tricks gewohnt hatte; aber Barlennan lie? sich davon nicht beeindrucken. Wer nur zwei Pfund wog, hielt sich entweder fest oder wurde vom ersten Windsto? uber Bord geweht; und niemand konnte sich mit sechs Beinen festhalten. Schon der nachste Windsto? mu?te… aber das Brausen hatte jeden Befehl ubertont. Der Kommandant wollte schon zu Dondragmer hinuberkriechen, als er endlich sah, da? der Maat sich mit einigen Leinen am Deck festgebunden hatte und ebenso wie der Mast gesichert war.

Barlennan sank wieder in sich zusammen. Er wu?te, weshalb Don dieses waghalsige Kunststuck vorfuhrte – er wollte der Mannschaft beweisen, wie harmlos der Sturm im Grunde genommen war.

Barlennan wandte sich ab und sah wieder auf die Bucht hinaus.

Niemand hatte genau angeben konnen, wo der Strand verlief, denn der Sturm wirbelte Sand und Schaum auf, so da? die Sicht kaum hundert Meter betrug. Sogar die Bree war jetzt nur undeutlich zu erkennen, als gro?e Methantropfen von der Bucht her landeinwarts getrieben wurden und Barlennans Augen trafen. Zumindest schien das Deck unter seinen Fu?en weiterhin felsenfest zu sein; das Schiff befand sich hoffentlich nicht in Gefahr, fortgeblasen zu werden. Der Kommandant dachte an die zahlreichen Taue, die zu Ankern und den niedrigen Baumen am Strand fuhrten. Nein, die Bree lag hier fest – aber sie ware nicht das erste Schiff gewesen, das am Rand der Welt verschwand… Vielleicht hatte die Mannschaft doch recht, wenn sie dem Flieger gegenuber mi?trauisch war. Schlie?lich hatte dieses seltsame Wesen ihn, Barlennan, dazu uberredet, hier zu uberwintern, ohne ihm zu versprechen, fur die Sicherheit von Schiff und Mannschaft zu sorgen. Aber wenn der Flieger wirklich die Absicht haben sollte, sie alle zu vernichten, konnte er es auf andere Weise einfacher und grundlicher tun. Falls das riesige Ding, in dem er flog, selbst hier, wo Gewicht nicht viel bedeutete, auf die Bree herabsank, war es mit Schiff und Besatzung zu Ende. Barlennan dachte rasch an etwas anderes; in dieser Beziehung unterschied er sich nicht von anderen Bewohnern des Planeten Mesklin, die es peinlich vermieden, irgendwelche festen Gegenstande uber sich zu haben.

Die Besatzung hatte langst unter den Decksplanen Schutz gesucht – selbst der Maat arbeitete nicht weiter, als der Sturm mit ungeahnter Heftigkeit losbrach. Alle waren an Bord; Barlennan hatte die Ausbuchtungen unter der Plane gezahlt, solange das ganze Deck sichtbar war. Zur Zeit waren keine Jager unterwegs, denn die Besatzung wu?te ohnehin, wann ein Sturm bevorstand, ohne da? der Flieger sie warnen mu?te. In den letzten Tagen war keiner von ihnen mehr als funf Kilometer vom Schiff entfernt gewesen, und in diesem fast schwerelosen Zustand waren funf Kilometer keine gro?e Entfernung. Selbstverstandlich hatten sie reichliche Vorrate an Bord; Barlennan war kein Narr und gab sich gro?e Muhe, moglichst keinen anzuheuern. Trotzdem war frische Nahrung eine angenehme Abwechslung. Er fragte sich, wie lange dieser Sturm noch dauern wurde. Vielleicht konnte der Flieger ihm daruber Auskunft geben. Jedenfalls war das Schiff vorlaufig sicher, und Barlennan konnte sich die Zeit am besten dadurch vertreiben, da? er mit dem Fremden sprach. Er betrachtete das Gerat, das ihm der Flieger gegeben hatte, noch immer verstandnislos e rstaunt und wurde nie mude, sich von seinen magischen Kraften zu uberzeugen.

Das Gerat lag neben ihm unter der Schutzplane.

Es war ein Wurfel mit etwa zehn Zentimeter Seitenlange, in dessen Stirnflache eine Art Auge eingelassen war. An der gegenuberliegenden Seite befand sich eine kleine Offnung, in die Barlennan seine Zange steckte. Er wu?te aus Erfahrung, da? der Flieger dann irgendwie merkte, da? jemand mit ihm sprechen wollte, aber er wu?te auch, da? es zwecklos war, den Mechanismus des Gerats ergrunden zu wollen. Das ware dem Versuch gleichgekommen, ein zehntagiges Kind in Navigation zu unterrichten. Die notige Intelligenz war vielleicht sogar vorhanden – Barlennan trostete sich mit diesem Gedanken –, aber die Grundlagen fehlten einfach.

»Barl?« Die Maschine sprach plotzlich und unterbrach seine Gedanken. »Hier ist Charles Lackland.«

»Hier ist Barlennan, Charles.« Der Kommandant sprach die Sprache des Fliegers, die er von Tag zu Tag besser beherrschte.

»Ich freue mich, da? du dich wieder einmal meldest. Haben wir den Sturm richtig vorausgesagt?«

»Er ist punktlich losgebrochen«, bestatigte der Mesklinit. »Aber ich sehe noch keinen Staub.«

»Der kommt noch. Der Vulkan mu? zehn Kubikkilometer Staub ausgespuckt haben, und die Wolke treibt seit Tagen in diese Richtung.«

Barlennan antwortete nicht darauf. Der Vulkan, von dem Charles sprach, lag in einem Gebiet von Mesklin, das seinen Informationen nach gar nicht existieren konnte.

»Ich wollte dich nur fragen, ob du wei?t, wie lange der Sturm noch dauert, Charles. Konnen deine Leute von oben etwas erkennen?«

»Habt ihr schon Schwierigkeiten?« erkundigte der Flieger sich besorgt. »Der Winter fangt doch erst an – ihr mu?t noch Tausende von Tagen warten, bis ihr aufbrechen konnt.«

»Das ist mir klar. Unsere Vorrate reichen vollig aus, aber wir mochten gelegentlich auf die Jagd gehen und Frischfleisch an Bord holen. Deshalb ware ich dir dankbar, wenn du uns helfen konntest.«

»Naturlich gern, aber ich furchte, da? wir sehr vorsichtig sein mussen. In diesem Gebiet scheinen fast standig gewaltige Sturme zu herrschen. Bist du fruher schon einmal hier am Aquator gewesen?«

»Wo?«

»Am… nun, am Rand der Welt, wie du mir e rklart hast.«

»Nein, ich bin noch nie so nahe am Rand gewesen, und ich bezweifle, da? andere weiter vorgedrungen sind. Ich konnte mir vorstellen, da? man immer mehr Gewicht verliert, je weiter man sich auf See hinauswagt – bis man schlie?lich vom Wind mitgerissen wird.«

»Du irrst dich, falls dir das ein Trost ist«, antwortete der Flieger. »Du wurdest allmahlich wieder schwerer werden. Im Augenblick bist du genau am Aquator, wo dein Korper am wenigsten wiegt.

Deshalb bin ich auch hier. Allmahlich verstehe ich, weshalb du nicht glauben kannst, da? es nordlich von hier gro?ere Landmassen geben soll. Vielleicht erklarst du mir bei dieser Gelegenheit, wie Mesklin deiner Meinung nach aussieht – oder hast du Karten an Bord?«

»Wir haben selbstverstandlich eine Schussel auf dem Achterflo? stehen. Aber du wurdest jetzt nicht viel darin erkennen, denn die Sonne ist eben untergegangen, und Esstes leuchtet zu schwach, um die Wolkendecke zu durchdringen. Ich zeige dir die Schussel nach Sonnenuntergang. Meine Karten helfen dir nicht weiter, weil sie nur kleine Ausschnitte darstellen.«

»Einverstanden. Aber in der Zeit bis Sonnenaufgang konntest du mir doch beschreiben, wie Mesklin aussieht, nicht wahr?«

»Hoffentlich kann ich mich in deiner Sprache gut genug ausdrucken«, meinte Barlennan zweifelnd.

»Ich habe in der Schule gelernt, da? Mesklin einer gro?en Schussel gleicht, an deren Boden die meisten Leute leben, weil dort das Korpergewicht stimmt. Unsere Philosophen sind der Meinung, das Gewicht sei von der Anziehungskraft einer riesigen Platte abhangig, auf der Mesklin ruht; je weiter man sich dem Rand nahert, desto weniger wiegt man, weil man weiter von der Platte entfernt ist.

Allerdings wei? niemand, worauf diese Platte ruht; einige der weniger zivilisierten Rassen haben recht komische Auffassungen davon.«

»Ware Mesklin tatsachlich schusselformig, mu?te jede Reise vom Mittelpunkt aus bergauf fuhren – und die Meere wurden am Boden der Schussel z usammenlaufen«, wandte Lackland ein. »Was haben eure Philosophen dazu zu sagen?«

»Vor vielen Jahren habe ich eine Darstellung des Problems in der Schule gesehen«, antwortete der Kommandant. »Der Lehrer zeichnete Mesklin an die Tafel und zog dann einige Linien von der Platte aus nach oben, die der Seitenwand folgten und sich genau uber dem Mittelpunkt trafen. Er erklarte uns, die Anziehungskraft wirke nicht senkrecht nach unten, sondern entlang dieser Linien. Ich habe diese Erklarung nie recht verstanden, aber die Sache schien zu funktionieren. Ein Beweis fur diese Theorie ist die Tatsache, da? gemessene Entfernungen mit den Karten ubereinstimmen. Das verstehe ich und halte es fur ein gutes Argument. Ware die Form anders als vorausgesetzt, wurden die Entfernungen bald nicht

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