New York machen wollten, wo ihre Tochter soeben ihr erstes Kind bekommen hatte. Nichts, so hatte er geglaubt, hatte ihn von dieser Reise abhalten konnen. Aber es hatte nur zweier Worte bedurft. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Diener ins Schlafzimmer treten, ihm das Telefon reichen und sagen:

»Constantin Demiris.«

Die Insel war nur mit Hubschrauber und Jacht zu erreichen, und Flughafen und Privathafen wurden rund um die Uhr von bewaffneten Wachen mit dressierten Schaferhunden abpatrouilliert. Die Insel war das Privatherrschaftsgebiet von Constantin Demiris, und niemand betrat sie ohne Einladung. Uber die Jahre hinweg hatten ihre Gaste Konige und Koniginnen, Prasidenten und ehemalige Prasidenten, Filmstars, Opernsanger und - Sangerinnen und beruhmte Schriftsteller und Maler eingeschlossen. Sie alle waren ehrfurchtsvoll wieder abgefahren. Constantin Demiris war der drittreichste Mann und einer der machtigsten Manner der Welt, und er hatte Geschmack und Stil und verstand es, sein Geld auszugeben, um Schonheit zu schaffen.

Demiris sa? jetzt in seiner reich getafelten Bibliothek entspannt in einem tiefen Armsessel. Er rauchte eine der flachen, eigens fur ihn gemischten agyptischen Zigaretten und sann uber den Prozess nach, der morgen fruh beginnen sollte. Seit Monaten hatte die Presse versucht, an ihn heranzukommen, aber er war einfach nicht zu erreichen. Es genugte schon, dass seine Geliebte wegen Mordes vor Gericht stehen wurde, genugte, dass sein Name in den Fall hineingezogen wurde, selbst indirekt. Er lehnte es ab, den Furor noch zu verschlimmern, indem er Interviews gab. Er fragte sich, wie Noelle sich jetzt fuhlte, in diesem Augenblick, in ihrer Zelle im Gefangnis in der Nikodemusstra?e. Schlief sie? War sie wach? In Panik uber die ihr bevorstehende schwere Prufung? Er dachte an sein letztes Gesprach mit Napoleon Chotas. Er vertraute Chotas und wusste, dass der Anwalt ihn nicht im Stich lassen wurde. Demiris hatte dem Anwalt eingepragt, dass es keine Rolle spielte, ob Noelle unschuldig oder schuldig war. Chotas sollte dafur sorgen, dass er jeden Penny des horrenden Honorars verdiente, das Constantin Demiris ihm fur die Verteidigung bezahlte. Nein, er hatte keinen Grund zur Sorge. Der Prozess wurde gut verlaufen. Weil Constantin Demiris ein Mann war, der nie etwas verga?, erinnerte er sich, dass Catherine Douglas' Lieblingsblumen Triantafylias, die schonen Rosen Griechenlands, waren. Er langte nach einem Notizblock auf seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf. Triantafylias. Catherine Douglas. Es war das wenigste, was er fur sie tun konnte.

ERSTES BUCH

Noelle

Chicago 1919-1939 

Jede Gro?stadt hat ein charakteristisches Image, eine Individualitat, die ihr ihren besonderen Stempel aufdruckt. Chicago in den Zwanzigern war ein ruheloser, dynamischer Riese, roh und ohne Manieren, mit einem gestiefelten Fu? noch in der rucksichtslosen Ara jener Industriemagnaten, die seine Geburtshelfer waren: William B. Ogden und John Wentworth, Cyrus McCormick und George M. Pullman. Es war ein Konigreich, das den Philip Armours und Gustavus Swifts und Marshall Fields gehorte. Es war der Herrschaftsbereich kalter Berufsgangster wie Hymie Weiss und Scarface Al Capone.

Eine der fruhesten Kindheitserinnerungen Catherine Alexanders war, wie ihr Vater sie in eine Bar, deren Boden mit Sagemehl bestreut war, mitnahm und sie auf den schwindelnd hohen Hocker schwang. Sie war funf Jahre alt und erinnerte sich, wie stolz ihr Vater war, als Fremde um sie herumstanden, um sie zu bewundern. Alle diese Manner bestellten Getranke, und ihr Vater zahlte. Sie erinnerte sich, wie sie ihren kleinen Korper an seinen Arm gedruckt hatte, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Er war erst am Abend zuvor in die Stadt zuruckgekehrt, und Catherine wusste, dass er bald wieder abfahren wurde. Er war Handlungsreisender und hatte ihr erklart, seine Arbeit fuhre ihn in ferne Stadte, und manchmal musse er monatelang von ihr und ihrer Mutter fort sein, damit er ihr hubsche Geschenke mitbringen konne. Catherine hatte verzweifelt versucht, ein Abkommen mit ihm zu treffen. Wenn er bei ihr bliebe, wurde sie auf die Geschenke verzichten. Ihr Vater hatte lachend gesagt, sie sei ein fruhreifes Kind, und war dann wieder weggefahren. Und es hatte sechs Monate gedauert, bis sie ihn wieder sah. In diesen fruhen Jahren schien ihre Mutter, die sie taglich sah, eine verschwommene, gestaltlose

Person, wahrend ihr Vater, den sie immer nur kurz sah, deutlich und wunderbar klar in ihrer Erinnerung stand. Catherine dachte an ihn als an einen gut aussehenden, lachenden Mann voll spruhenden Humors und freundlicher, hochherziger Gesten. Die wenigen Male, die er nach Hause kam, waren wie Feiertage, voller Vergnugungen und Geschenke und Uberraschungen.

Als Catherine sieben war, wurde ihr Vater entlassen, und ihr Leben bekam einen anderen Zuschnitt. Sie verlie?en Chicago und zogen nach Gary, Indiana, wo er als Verkaufer in einem Juweliergeschaft tatig war. Catherine kam in ihre erste Schule. Sie hatte ein argwohnisches Verhaltnis auf Armeslange zu den anderen Kindern und hatte Angst vor ihren Lehrern, die ihre einsame Unnahbarkeit als Dunkel missdeuteten. Ihr Vater kam jeden Abend zum Essen nach Hause, und zum ersten Mal in ihrem Leben fuhlte Catherine, dass sie eine richtige Familie waren wie andere Familien. Sonntags gingen alle drei zum Miller Beach, mieteten sich Pferde und ritten ein oder zwei Stunden auf den Dunen. Catherine gefiel das Leben in Gary, aber sechs Monate nachdem sie hingezogen waren, verlor ihr Vater seine Anstellung wieder, und sie zogen nach Harvey, einer Vorstadt von Chicago. Das Schuljahr hatte schon angefangen, und Catherine war das neue Madchen, von den Freundschaften ausgeschlossen, die sich bereits gebildet hatten. Sie wurde als Einzelgangerin bekannt. Im sicheren Schutz ihrer eigenen Gruppen uberfielen die Kinder den schlaksigen Neuankommling mit grausamem Spott.

In den nachsten Jahren legte Catherine sich einen Panzer der Gleichgultigkeit als Schild gegen die Angriffe der anderen Kinder zu. Wenn der Panzer durchsto?en wurde, schlug sie mit schneidendem, bei?endem Witz zuruck. Sie beabsichtigte, ihre Peiniger zu spalten, damit sie sie in Ruhe lie?en, aber dies zeitigte eine unerwartet andere Wirkung. Sie arbeitete an der Schulzeitung mit, und in ihrer ersten Besprechung eines

Musicals, das ihre Klassenkameraden aufgefuhrt hatten, schrieb sie: »Tommy Beiden blies im zweiten Akt ein Trompetensolo – daneben.« Der Satz wurde uberall zitiert, und – Uberraschung uber Uberraschung – Tommy Beiden kam am nachsten Tag in der Halle auf sie zu und sagte Catherine, er habe ihn fur urkomisch gehalten.

In Englisch erhielten die Schuler die Aufgabe, Captain Horatio Hornblower zu lesen. Catherine hasste das Buch. Ihre Rezension bestand nur aus einem Satz, der in Form eines Wortspiels, des Inhaltes etwa: »Er klafft nur, aber er bei?t nicht«, ein vernichtendes Urteil abgab. Sie bekam eine »Eins« dafur. Ihre Klassenkameraden fingen an, ihre Bonmots zu zitieren, und in kurzer Zeit war sie als der Schulwitzbold bekannt.

In jenem Jahr wurde Catherine vierzehn, und ihr Korper begann, Anzeichen einer reifenden Frau zu verraten. Stundenlang prufte sie sich vor dem Spiegel, brutete daruber nach, wie sie die Katastrophe, die sie widergespiegelt sah, abwenden konnte. Im Inneren war sie Myrna Loy, die die Manner mit ihrer Schonheit verruckt machte, aber ihr Spiegel – ihr unerbittlicher Feind – zeigte hoffnungslos wuscheliges schwarzes Haar, das sich einfach nicht zahmen lie?, ernste graue Augen, einen Mund, der stundlich breiter zu werden schien, und eine leichte Stupsnase. Vielleicht war sie nicht eigentlich hasslich, sagte sie sich vorsichtig, andererseits aber wurde niemand Turen einrennen, um sie als Filmstar zu verpflichten. Sie zog die Wangen ein, zwinkerte lasziv mit den Augen und versuchte, ein Fotomodell zu mimen. Deprimierend. Eine andere Pose: Augen weit aufgerissen, gespannter Gesichtsausdruck, ein breites, freundliches Lacheln. Zwecklos. Sie war auch nicht der amerikanische Typ. Sie war gar nichts. Ihr Korper wurde sich gut entwickeln, nahm sie murrisch an, aber etwas Besonderes wurde er nicht werden. Und das naturlich wollte sie mehr als alles andere auf der Welt: etwas

Besonderes sein, jemand sein, an den man sich erinnerte, und nie, nie, nie sterben.

In dem Sommer, in dem sie funfzehn war, kam Catherine Science and Health von Mary Baker Eddy in die Hande, und die nachsten vierzehn Tage stand sie eine Stunde taglich vor dem Spiegel mit dem festen Willen, ihr Spiegelbild schon erscheinen zu lassen. Am Ende dieser Zeit war die einzige feststellbare Veranderung eine neue Pustel auf ihrem Kinn und ein Pickel auf ihrer Stirn. Sie a? keine Su?igkeiten mehr, warf Mary Baker Eddy weg und schaute nicht mehr in den Spiegel.

Catherine und ihre Familie waren nach Chicago zuruckgezogen und hatten sich eine kleine trostlose Wohnung auf der Nordseite, in Rogers Park, genommen, weil die Miete billig war. Das Land bewegte sich tiefer in eine Wirtschaftskrise hinein. Catherines Vater arbeitete weniger und trank mehr, und er und ihre Mutter brullten

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