sich in einer endlosen Reihe von Vorwurfen und Beschuldigungen fortwahrend an, was Catherine aus dem Hause trieb. Sie ging dann an den Strand, der ein halbes Dutzend Hauserblocks entfernt lag, lief am Ufer entlang und lie? ihren mageren Korper von dem frischen Wind beflugeln. Stundenlang starrte sie auf den ruhelosen grauen See hinaus, von einer verzweifelten Sehnsucht erfullt, die sie nicht definieren konnte. Manchmal wunschte sie sich etwas so sehnlich, dass sie plotzlich von einem unertraglichen Schmerz befallen wurde.

Catherine hatte Thomas Wolfe entdeckt, und seine Bucher waren wie ein Spiegelbild der bittersu?en Nostalgie, die sie erfullte, aber es war Sehnsucht nach einer Zukunft, die noch nicht stattgefunden hatte, als habe sie irgendwann und irgendwo einmal ein wunderbares Leben gefuhrt und trachte rastlos danach, es wieder zu leben. Ihre Periode stellte sich ein, und wahrend sie sich physisch in eine Frau verwandelte, wusste sie, dass ihre Bedurfnisse, ihre Sehnsuchte, das schmerzhafte Erwarten nichts Physisches waren und mit Sex nichts zu tun hatten. Es war das gluhende und drangende Verlangen, anerkannt zu werden, sich uber die Milliarden Menschen hinauszuheben, die die Erde bevolkerten, dass jeder wusste, wer sie war, dass die Leute, wenn sie vorbeigingen, sagen wurden: »Das ist Catherine Alexander, die gro?e -.« Die gro?e was? Da lag der Hase im Pfeffer. Sie wusste ja gar nicht, was sie wollte, wusste nur, dass sie sich verzweifelt danach sehnte. Wenn sie genug Geld hatte, ging sie Sonnabend nachmittags ins Kino, ins State and Lake Theatre oder zu den McVickers oder ins Chicago. Dabei ging sie vollig auf in der wundervollen, blasierten Welt Cary Grants und Jean Arthurs, lachte uber Wallace Beery und Marie Dressler und litt Todesqualen bei Bettie Davis' romantischen Katastrophen. Sie fuhlte sich Irene Dunne naher als ihrer Mutter.

Catherine war in ihrem letzten Semester auf der Senn High School, und ihr Erzfeind, der Spiegel, war endlich ihr Freund geworden. Das Madchen im Spiegel hatte ein lebhaftes, interessantes Gesicht. Ihr Haar war kohlrabenschwarz und ihr Teint zart, kremigwei?. Sie hatte regelma?ige und feine Zuge, einen edlen, sensiblen Mund und intelligente graue Augen. Ihre Figur war gut, ihre Bruste waren gut entwickelt, sie hatte sanft gewolbte Huften und wohlgeformte Beine. Ein Hauch von Zuruckhaltung war ihr eigen, ein Hochmut, dessen Catherine sich nicht bewusst war, als ob ihr Spiegelbild ein Charakteristi-kum besa?e, das sie nicht hatte. Sie nahm an, dass es ein Teil des Schutzpanzers war, den sie seit ihren fruhen Schultagen getragen hatte.

Die Depression hatte die Nation immer fester gepackt, hatte sie in eine Schraube genommen, die sich unaufhorlich zuzog. Catherines Vater war standig in gro?e Geschafte verwickelt, die sich nicht zu verwirklichen schienen. Dauernd heckte er Plane aus, machte Erfindungen, die Millionen Dollar einbringen wurden. Er erfand einen Wagenheber, der oberhalb der Reifen eines Autos angebracht werden sollte und mittels eines

Knopfdrucks am Armaturenbrett bedient wurde. Keine der Autofabriken war interessiert. Er arbeitete ein rotierendes elektrisches Reklameschild fur Warenhauser aus. Es gab ein kurzes Aufflackern optimistischer Konferenzen, und dann verschwand die Idee in der Versenkung.

Er lieh sich Geld von seinem jungeren Bruder Ralph in Omaha, um einen LKW fur Schuhreparaturen auszurusten, der in der Nachbarschaft herumfahren sollte. Stundenlang besprach er den Plan mit Catherine und ihrer Mutter. »Es kann nicht schief gehen«, erklarte er. »Stellt euch vor, der Schuhmacher kommt direkt vor die Haustur! Das hat noch keiner gemacht. Jetzt habe ich ein Schuhmobil drau?en, stimmt's? Wenn es nur 20 Dollar pro Tag einbringt, dann sind das 120 Dollar in der Woche. Zwei LKW bringen 240 die Woche. In einem Jahr werde ich zwanzig Wagen haben. Das bedeutet 2400 Dollar die Woche. 125 000 im Jahr. Und das ist erst der Anfang ...« Zwei Monate spater verschwanden der Schuhmacher und der LKW, und das war wieder einmal das Ende eines Traumes.

Catherine hatte gehofft, auf die Northwestern University gehen zu konnen. Sie war die Beste ihrer Klasse, aber selbst mit einem Stipendium wurde es schwer werden, und der Tag naherte sich, das wusste Catherine, an dem sie von der Schule abgehen und sich eine Ganztagsarbeit suchen musste. Sie wurde sich eine Anstellung als Sekretarin verschaffen, war aber entschlossen, den Traum nie aufzugeben, der ihrem Leben eine so kostbare, wundervolle Bedeutung geben wurde; und die Tatsache, dass sie nicht wusste, was der Traum oder seine Bedeutung wirklich waren, machte alles um so unertraglich trauriger und aussichtsloser. Sie sagte sich, wahrscheinlich befinde sie sich im spateren Abschnitt des Jugendalters. Ganz gleich, was es war, es war die Holle. Kinder sind zu jung, um diesen Altersabschnitt durchzumachen, dachte sie verbittert.

Es gab zwei Jungen, die glaubten, in Catherine verliebt zu sein. Der eine war Tony Korman, der spater einmal in das

Anwaltsburo seines Vaters eintreten sollte und der drei?ig Zentimeter kleiner als Catherine war. Er hatte eine kasige Haut und kurzsichtige, wasserige Augen, die sie bewundernd anblickten. Der andere war Dean McDermott, der dick und schuchtern war und Zahnarzt werden wollte. Dann war da naturlich Ron Peterson, aber der gehorte in eine eigene Kategorie. Ron war der Fu?ballstar von Senn High, und jedermann sagte, es sei eine todsichere Sache, dass er mit einem Sportstipendium aufs College gehen werde. Er war gro?, breitschultrig, sah wie ein Matinee-Idol aus und war mit Abstand der beliebteste Junge in der Schule.

Das einzige, was Catherine davon abhielt, sich sofort mit Ron einzulassen, war die Tatsache, dass er von ihr uberhaupt keine Notiz nahm. Jedes Mal, wenn sie im Schulkorridor an ihm voruberging, klopfte ihr Herz wild. Sie dachte sich etwas Kluges und Herausforderndes aus, was sie zu ihm sagen wurde, damit er sich mit ihr verabredete. Doch wenn sie sich ihm naherte, war ihre Zunge wie gelahmt, und sie gingen schweigend aneinander voruber.

Das finanzielle Problem wurde jetzt brennend. Seit drei Monaten war die Miete uberfallig, und der einzige Grund, weshalb sie nicht an die Luft gesetzt worden waren, lag darin, dass die Hausbesitzerin von Catherines Vater und seinen bombastischen Planen und Erfindungen bestrickt war. Wenn Catherine ihm zuhorte, wurde sie von bitterer Traurigkeit erfullt. Er war immer noch der alte, heiter, optimistisch, aber sie konnte hinter die locherige Fassade blicken. Der wunderbare, sorglose Charme, der allem, was er tat, immer eine Patina von Frohsinn gegeben hatte, war verblichen. Er erinnerte Catherine an einen kleinen Jungen im Korper eines Mannes mittleren Alters, der Geschichten von der glorreichen Zukunft zusammenphantasierte, um die schabigen Niederlagen der Vergangenheit zu verbergen. Mehr als einmal hatte sie es erlebt, dass er eine Dinner Party fur ein Dutzend Leute bei

Henrici gab und am Schluss einen seiner Gaste quietsch vergnugt beiseite nahm und ihn anpumpte, um die Rechnung, plus einem furstlichen Trinkgeld naturlich, bezahlen zu konnen. Immer gro?zugig, denn das war er seinem Ruf schuldig. Doch trotz all dieser Dinge und obgleich Catherine sich im klaren war, dass er ein nachlassiger und gleichgultiger Vater war, liebte sie diesen Mann, liebte seinen Enthusiasmus und seine lachelnde Energie in einer Welt murrischer, gramlicher Menschen. Das war seine Begabung, und er war immer sehr gro?zugig damit umgegangen.

Am Ende, dachte Catherine, ging es ihm besser mit seinen wundervollen Traumen, die nie Wirklichkeit wurden, als ihrer Mutter, die sich furchtete, uberhaupt zu traumen.

Im April starb Catherines Mutter an einem Herzanfall. Es war Catherines erste Konfrontation mit dem Tod. Freunde und Nachbarn standen in der kleinen Wohnung herum, druckten ihr Beileid aus, mit der falschen geflusterten Frommigkeit, die das Ungluck beschwort.

Der Tod hatte Catherines Mutter zu einer winzigen verwelkten Gestalt zusammenschrumpfen lassen, ohne Safte oder Lebenskraft, oder vielleicht hatte das Leben ihr das schon angetan, dachte Catherine. Sie versuchte, Erinnerungen an ihre Mutter wachzurufen, an Ereignisse, die sie zusammen erlebt hatten, an Dinge, uber die sie zusammen gelacht hatten, an Augenblicke, in denen ihre Herzen sich beruhrt hatten; aber immer wieder trat Catherines Vater vor ihr inneres Auge, lachelnd, eifrig und frohlich. Es war, als ware das Leben ihrer Mutter ein blasser Schatten, der vor dem Licht der Erinnerung entwich. Catherine starrte auf die wachserne Gestalt ihrer Mutter im Sarg, in einem einfachen schwarzen Kleid mit wei?em Kragen, und dachte, was fur ein vergeudetes Leben ist es gewesen. Und wozu alles ? Was Catherine schon vor Jahren empfunden hatte, kam wieder uber sie, die Entschlossenheit, jemand zu werden, der Welt einen

Stempel aufzudrucken, so dass sie nicht in einem anonymen Grab enden wurde und die Welt weder wusste noch sich darum kummerte, dass Catherine Alexander je gelebt hatte und gestorben und der Erde zuruckgegeben worden war.

Zur Beerdigung kamen Catherines Onkel Ralph und seine Frau Pauline aus Omaha angeflogen. Ralph war zehn Jahre junger als Catherines Vater und ahnelte seinem Bruder gar nicht. Er war in der Vitamin- Versandbranche tatig und sehr erfolgreich. Er war ein gro?er vierschrotiger Mann mit breiten Schultern, breitem Kinn und, wie Catherine uberzeugt war, von anstandiger Gesinnung. Seine Frau war wie ein Vogel, alles flatterte und zwitscherte an ihr. Es waren ehrbare Leute, und Catherine wusste, dass ihr Onkel seinem Bruder eine ganze Menge Geld geliehen hatte; andererseits spurte Catherine, dass sie nichts mit ihnen gemein hatte. Wie ihre Mutter

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