Man konnte Ski laufen, Kanu fahren und spater, wenn man alter war, auf dem Eis der Gletscher herumklettern und mit dem Rucksack Fu?marsche nach Orten mit wundervollen Namen unternehmen.

Ihr Vater hatte stets Zeit fur sie, wahrend ihre Mutter, schon und ruhelos, auf geheimnisvolle Weise immer beschaftigt und selten zu Hause war. Jennifer vergotterte ihren Vater. In Abner Parkers Adern flo? eine Mischung aus englischem, irischem und schottischem Blut. Er war mittelgro?, hatte schwarzes Haar und blaugrune Augen. Er war ein stets hilfsbereiter Mann mit einem tiefve rwurzelten Sinn fur Gerechtigkeit. Stundenlang konnte er bei Jennifer sitzen und mit ihr reden. Er erzahlte ihr von seinen Fallen und den Problemen der Leute, die in sein schlichtes, kleines Buro kamen, und erst Jahre spater begriff Jennifer, da? er in erster Linie mit ihr gesprochen hatte, weil er sein Leben

mit niemand anderem teilen konnte.

Nach der Schule pflegte Jennifer zum Gericht zu laufen, um ihren Vater bei der Arbeit zu beobachten. Wenn gerade keine Sitzung stattfand, sa? sie in seinem Buro und horte ihm zu, wenn er uber seine Falle und Mandanten sprach. Sie redeten nie daruber, da? sie eines Tages Jura studieren sollte; das war selbstverstandlich.

Mit funfzehn begann Jennifer, in den Sommerferien fur ihren Vater zu arbeiten. In einem Alter, in dem andere Madchen Verabredungen und feste Freunde hatten, war Jennifer voll ausgelastet mit Zivilprozessen und Testamenten.

Obwohl Jungen Interesse an ihr zeigten, ging sie selten aus. Wenn ihr Vater sie nach dem Grund dafur fragte, antwortete sie: »Sie sind alle so jung, Papa.« Sie wu?te, da? sie eines Tages einen Anwalt wie ihren Vater heiraten wurde. An Jennifers sechzehntem Geburtstag verlie? ihre Mutter mit dem achtzehnjahrigen Sohn ihres Nachbarn die Stadt, und Jennifers Vater begann lautlos zu sterben. Sein Herz brauchte noch sieben Jahre bis zu seinem letzten Schlag, aber von dem Augenblick, in dem er die Nachricht vom Verschwinden seiner Frau erhielt, war er tot. Die ganze Stadt wu?te Bescheid, hatte Mitleid, und das machte es naturlich noch schlimmer, denn Abner Parker war ein stolzer Mann. Er begann zu trinken. Jennifer tat, was sie konnte, um ihn zu trosten, aber es half nichts, und nichts war mehr wie fruher. Als im nachsten Jahr die Zeit kam, aufs College zu gehen, sagte Jennifer, sie wurde lieber zu Hause bei ihrem Vater bleiben, aber er wollte davon nichts horen. »Wir werden Partner, du und ich, Jennie«, sagte er. »Beeil dich, damit du deinen Titel bekommst.«

Nachdem sie die Abschlu?prufung bestanden hatte, schrieb sich Jennifer an der Juristischen Fakultat der University of Washington ein. Wahrend des ersten Studienjahrs, als ihre Kommilitonen in einem Sumpf aus Vertragen, Delikten, Eigentumsrecht, Verfahrensordnung und Strafrecht zu ersticken drohten, fuhlte Jennifer sich, als ware sie nach Hause zuruckgekehrt.

Zwei Jungen machten Jennifer den Hof: ein junger, attraktiver Medizinstudent namens Noah Larkin und ein Jurastudent namens Ben Munro. Hin und wieder ging Jennifer mit ihnen aus, aber sie war viel zu beschaftigt, um an eine ernsthafte Roma nze zu denken.

Das Wetter war rauh, feucht und windig, und es schien ununterbrochen zu regnen. Jennifer trug einen blaugrun karierten Lumberjack, der die Regentropfen in seiner rauhen Wolle auffing und ihre Augen wie Smaragde blitzen lie?. Sie wanderte durch den Regen, verloren in ihren geheimen Gedanken, ohne zu wissen, da? ihr Gedachtnis sie alle aufbewahrte und abheftete.

Im Fruhling schienen die Studentinnen in ihren leuchtenden Baumwollkleidern zu erbluhen. Die Jungen lungerten auf dem Rasen herum und beobachteten die vorbeischlendernden Madchen, aber Jennifer hatte etwas an sich, das sie alle einschuchterte. Sie hatte eine bestimmte Ausstrahlung, die sie schwer einordnen konnten. Sie fuhlten, da? Jennifer schon erreicht hatte, wonach sie immer noch suchten. Jeden Sommer besuchte Jennifer ihren Vater zu Hause. Er hatte sich sehr verandert. Er war niemals wirklich betrunken, aber auch nie nuchtern. Er hatte sich in eine innere Festung zuruckgezogen, in der ihn nichts mehr beruhren konnte. Er starb, als Jennifer im letzten Semester war. Die Stadt hatte ein gutes Gedachtnis, und zu Abner Parkers Beerdigung fanden sich fast hundert Menschen ein, Menschen, denen er im Laufe der Jahre geholfen, die er beraten und unterstutzt hatte. Jennifer trug ihre Trauer nicht zur Schau. Sie hatte mehr als einen Vater verloren. Sie hatte einen Lehrer und treuen Ratgeber beerdigt.

Nach dem Begrabnis kehrte sie nach Seattle zuruck, um ihr Studium zu beenden. Ihr Vater hatte ihr weniger als tausend Dollar hinterlassen, und sie mu?te sich nun entscheiden, wie es weitergehen sollte. Sie wu?te, da? sie nicht nach Kelso zuruckkehren und ihren Beruf ausuben konnte, denn dort wurde sie immer das kleine Madchen sein, dessen Mutter mit einem Halbwuchsigen weggelaufen war. Ihr hoher Notendurchschnitt hatte Jennifer Vorstellungsgesprache in einem Dutzend der besten Anwaltskanzleien ermoglicht, und sie erhielt verschiedene Angebote. Warren Oakes, ihr Strafrechtsprofessor, erklarte: »Das ist eine gro?e Ehre, junge Dame. Nur wenige Frauen sto?en jemals in eine gute Kanzlei vor.«

Jennifers Dilemma bestand darin, da? sie kein Zuhause und keine Wurzeln mehr hatte. Sie wu?te nicht, wo sie leben wollte.

Kurz vor dem Schlu?examen wurde dieses Problem fur sie gelost. Professor Oakes bat sie, nach dem Seminar noch dazubleiben.

»Ich habe hier einen Brief vom Buro des Staatsanwalts in Manhattan. Sie bitten mich, ihnen meinen besten Prufling fur ihren Stab zu empfehlen. Wurde Sie das interessieren?«

New York. »Ja, Sir.« Jennifer war so uberrascht, da? ihr die Antwort einfach herausrutschte.

Sie flog nach New York, um sich der Zulassungsprufung zu unterziehen, und kehrte anschlie?end nach Kelso zuruck, um die Anwaltspraxis ihres Vaters zu schlie?en. Es war ein bittersu?es Erlebnis, uberschattet von Erinnerungen. Es schien Jennifer, als ware sie in diesem Buro aufgewachsen. Sie nahm einen Job in der Fakultatsbucherei der Universitat an, um die Zeit zu uberbrucken, bis sie erfuhr, ob sie die Prufung in New York bestanden hatte.

»Es ist eine der hartesten im ganzen Land«, hatte Professor Oakes sie gewarnt.

Aber Jennifer war sicher, da? sie es schaffen wurde. Sie erhielt die Mitteilung, da? sie bestanden hatte, und ein Angebot vom New Yorker Staatsanwaltsburo am gleichen Tag. Eine Woche spater war sie unterwegs nach Osten.

Sie fand ein winziges Appartement an der unteren Third Avenue (geraumig, Kamin, gute Lage, hatte es in der Anzeige gehei?en), aber der Kamin war nur eine Imitation, und im Haus gab es keinen Fahrstuhl. Eine steile Treppe fuhrte zu der Wohnung im vierten Stock. Das Treppensteigen wird mir guttun, sagte sich Jennifer. Schlie?lich gab es in Manhattan weder Berge, die man besteigen, noch Stromschnellen, uber die man mit dem Kanu rasen konnte. Das Appartement bestand aus einem kleinen Wohnzimmer mit einer Couch, die sich in ein zerbeultes Bett verwandeln lie?, und einem winzigen Badezimmer, dessen Fenster vor langer Zeit von einem der Vormieter mit schwarzer Farbe uberstrichen worden war, um einen Vorhang zu sparen. Das Mobiliar hatte gut und gern eine Spende der Heilsarmee sein konnen. Was soll's, lange werde ich hier sowieso nicht wohnen, dachte Jennifer. Es ist nur eine vorubergehende Losung, bis ich mir einen Namen als Anwalt gemacht habe.

Soweit der Traum. Die Wirklichkeit sah so aus, da? sie noch keine zweiundsiebzig Stunden in New York war, als man sie bereits aus dem Stab des Staatsanwalts gefeuert hatte. Und jetzt stand ihr noch der Ausschlu? aus der Anwaltskammer bevor.

Jennifer horte auf, Zeitungen oder Illustrierte zu lesen, und verzichtete aufs Fernsehen, denn uberall begegnete ihr nur ihr eigenes Antlitz. Sie hatte das Gefuhl, da? die Leute sie anstarrten, auf der Stra?e, im Bus, beim Einkaufen. Sie begann, sich regelrecht zu verstecken, ging nicht ans Telefon und weigerte sich zu offnen, wenn an der Tur geklingelt wurde. Sie erwog, ihre Koffer zu packen und nach Washington zuruckzugehen. Sie erwog, sich eine andere Tatigkeit in einem anderen Beruf zu suchen. Sie erwog, sich umzubringen. Ganze Stunden verbrachte sie damit, Briefe an Staatsanwalt Di Silva zu entwerfen. Mal griff sie seine Gefuhllosigkeit und seinen Mangel an Verstandnis mit bei?ender Scharfe an, mal bat sie mit kriecherischen Entschuldigungen um eine neue Chance. Keiner

dieser Briefe wurde je abgeschickt. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Jennifer von Verzweiflung uberwaltigt. Sie hatte keine Freunde in New York, mit denen sie hatte sprechen konnen. Tagsuber schlo? sie sich in ihrem Appartement ein. Erst spat nachts schlupfte sie hinaus und wanderte durch die verlassenen Stra?en der Stadt. Sie wurde nie belastigt. Vielleicht erblickte das menschliche Strandgut der Nacht seine eigene Einsamkeit und Verzweiflung in ihren Augen wie in einem Spiegel. Wahrend sie ging, erlebte Jennifer im Geist wieder und wieder die Szene im Gerichtssaal, und jedesmal versah sie sie mit einem anderen Ende.

Ein Mann loste sich aus der Gruppe um Di Silva und kam an ihren Tisch. Er hielt einen Manilaumschlag in der Hand. Mi? Parker? Ja?

Der Chef mochte, da? Sie das zu Stela bringen. Jennifer musterte ihn mit einem kuhlen Blick. Konnte ich

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