Fur Dino

Fecisti patriam diversis gentibus unam.

Eine gemeinsame Heimat erschufst du der Vielfalt der Volker.

Rutilius Namatianus, De reditu suo, 63

Prolog

Dies sind die Erinnerungen von Myrdin Emreis, dem Druiden des heiligen Hains von Gleva, den die Romer Meridius Ambrosinus nannten. Sie wurden niedergeschrieben, damit die Ereignisse, deren letzter Zeuge ich bin, bei den Nachgeborenen nicht in Vergessenheit geraten.

Ich habe bereits vor geraumer Zeit die Schwelle zum Greisenalter uberschritten und kann mir nicht erklaren, warum sich mein Leben uber jene Grenzen hinaus erstreckt, welche die Natur dem Menschen normalerweise setzt. Vielleicht hat mich der Engel des Todes vergessen, oder vielleicht will er mir diese letzte Frist gewahren, damit ich fur meine Sunden bu?e, die zahlreich und schwerwiegend gewesen sind. Vor allem die der Anma?ung, denn ich habe mir viel auf die Intelligenz eingebildet, die Gott mir geschenkt hat, und aus Eitelkeit habe ich zugelassen, da? sich unter den Menschen Legenden uber meine hellseherischen Fahigkeiten, ja sogar uber Krafte verbreiten konnten, die nur dem Hochsten Schopfer und der Fursprache der Heiligen zugeschrieben werden konnen. O ja, ich habe mich auch verbotenen Kunsten gewidmet, jenen, deren Anleitungen die alten heidnischen Priester dieses Landes auf die Rinden der Baume schrieben, ohne allerdings zu glauben, damit irgend etwas Schlechtes zu tun. Tatsachlich kann es nicht schlecht sein, wenn man auf die Stimme unserer Alten Mutter, der Hochsten Natur, hort und dem Raunen des Windes im Laub, dem Gluckern der Quellen im Fruhling und dem Rascheln der Blatter im Herbst lauscht, - wenn die Hugel und die Ebenen wahrend der stillen Sonnenuntergange, die den Winter ankundigen, in leuchtenden Farben erstrahlen.

Es schneit. Gro?e wei?e Flocken tanzen in der Luft, und ein wei?er Mantel bedeckt die Hugel, die dieses stille Tal, diesen einsamen Turm umgeben. Ob so wohl das Land des Ewigen Friedens aussieht? Ist dies das Bild, das wir fur immer mit den Augen der Seele schauen werden? Wenn dies zutrafe, ware der Tod gutig und sanft der Weg zur letzten Ruhestatte.

Wieviel Zeit ist vergangen! Wieviel Zeit seit den sturmischen Tagen von Blut und Ha?, seit den Zusammensto?en und den Todeszuckungen einer Welt, die ich zusammenbrechen sah, obwohl ich sie einst fur unsterblich und ewig gehalten hatte. Und jetzt, da ich kurz vor der Vollendung meines letzten Schrittes stehe, fuhle ich die Verpflichtung, die Geschichte dieser sterbenden Welt weiterzugeben und davon zu berichten, wie der letzte Spro? jenes verdorrten Baumes vom Schicksal in dieses ferne Land getragen wurde, um dort Wurzeln zu schlagen und ein neues Zeitalter zu begrunden.

Ich wei? nicht, ob der Engel des Todes mir die Zeit lassen wird, und ich wei? nicht, ob dieses alte Herz es ertragen kann, so starke Gefuhle erneut zu durchleben, die es schon damals, als es noch um einiges junger war, beinahe zermalmt hatten. Aber ich werde mich nicht von der Gro?e des Unternehmens entmutigen lassen. Ich spure, da? die Woge der Erinnerungen aufsteigt wie die Flut zwischen den Klippen von Carvetia; ich fuhle, wie ferne, verschwunden geglaubte Anblicke wieder Konturen annehmen wie ein altes, von der Zeit ausgeblichenes Wandgemalde.

Ich hatte geglaubt, es wurde genugen, zur Feder zu greifen und zu beginnen, dieses gro?e Stuck Tierhaut mit Zeichen zu bedecken, um die Geschichte Wiederaufleben und wie einen Flu? zwischen den Wiesen dahinstromen zu lassen, so, wie der Schnee im Fruhjahr schmilzt - aber ich habe mich geirrt. Zu gewaltig ist die Wucht der herandrangenden Erinnerungen, zu stark der Knoten, der mir die Kehle zuschnurt, und kraftlos sinkt die Hand auf das noch unbeschriebene Blatt. Ich werde zuerst jene Bilder heraufbeschworen und den Farben, dem Leben und jenen Stimmen Kraft verleihen mussen, die die Jahre und die Entfernung geschwacht haben. Und ich mu? auch das neu erschaffen, was ich personlich nicht gesehen habe - so, wie der Dramaturg es macht, der in seinen Tragodien Szenen auffuhrt, die er selbst nie erlebt hat.

Der Schnee fallt herab auf Carvetias Hugel. Alles ist wei? und still, und langsam erlischt das letzte Licht des Tages.

ERSTER TEIL

I

Dertona, Feldlager der Legio Nova Invicta,

im Jahre des Herrn 476, dem Jahr 1229 seit der Grundung der Stadt Rom

Langsam bohrte sich das Licht durch die Wolke, die das Tal einhullte, und auf der Anhohe der Hugel reckten sich die Zypressen plotzlich genauso empor wie die Wachtposten. Unter einem Bundel durrer Zweige erschien am Rand eines Stoppelfeldes ein gekrummter Schatten, der sich sofort aufloste wie ein Traumbild. In diesem Augenblick ertonte aus einem fernen Gehoft der Schrei eines Hahnes, um einen grauen und fahlen Tag anzukundigen, und dann erstarb er, als hatte der Nebel ihn verschluckt. Nur die Stimmen von Mannern durchschnitten die grauen Schwaden.

»Kalt ist es.«

»Und diese Feuchtigkeit dringt einem bis ins Mark.«

»Das ist der Nebel. In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen so dichten Nebel gesehen.«

»Furwahr. Und unsere Rationen haben sie immer noch nicht geliefert.«

»Vielleicht ist nichts mehr zum Essen ubriggeblieben.«

»Nicht einmal ein bi?chen Wein, damit wir uns aufwarmen konnen.«

»Und seit drei Monaten bekommen wir keinen Sold.«

»Ich kann nicht mehr, ich halte diese Situation nicht mehr aus. Fast jedes Jahr ein neuer Kaiser, auf allen Kommandoposten Barbaren, und jetzt auch noch der allergro?te Schwachsinn: ein Rotzbengel auf dem Thron der Casaren - Romulus Augustus! Ein Jungelchen von dreizehn Jahren, das noch nicht einmal die Kraft hat, das Zepter zu halten, soll jetzt uber das Schicksal der Welt bestimmen, zumindest uber das des Westens. Nein, wirklich, ich hor auf, ich hau ab. Bei der erstbesten Gelegenheit setze ich mich von der Truppe ab und ziehe mich auf irgendeine Insel zuruck, um Ziegen zu huten oder ein Stuck Land zu bebauen. Ich wei? nicht, wie es mit euch ist, aber ich habe mich entschieden.«

Ein Windhauch, eine leichte Brise, offnete eine Schneise in dem Dunst und gab den Blick frei auf eine Gruppe Soldaten, die sich um ein Kohlenbecken drangten. Sie warteten auf die letzte Wachablosung. Rufius Vatrenus, ein Spanier aus Sagunt, ein Veteran vieler Schlachten und der Kommandant der Wachmannschaft, wandte sich an seinen Kameraden, den einzigen, der noch kein Wort gesagt hatte: »Und was sagst du, Aurelius? Denkst du auch so wie ich?«

Aurelius stocherte mit der Spitze seines Schwertes im Kohlenbecken herum, um die Flamme neu anzufachen, die knisternd einen ganzen Wirbel von Funken in den milchigen Dunst stie?.

»Ich bin immer Soldat gewesen und habe stets in der Legion gedient. Was sollte ich sonst schon machen?«

Lange herrschte Schweigen: Von einem Gefuhl der Ohnmacht und einer unaussprechlichen Angst gepackt, blickten die Manner einander ins Gesicht.

»La? ihn in Ruhe«, sagte Antoninus, ein alterer Unteroffizier, »er wird nie aus dem Heer ausscheiden, er hat immer dazugehort. Er erinnert sich nicht einmal mehr daran, was er gemacht hat, ehe er zu den Soldaten ging, er

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