ZUM ANDENKEN AN AUDREY HARRIS (1920-2005) UND FUR SAM

TIRO, M. TULLIUS, Sekretar von cicero.

ER WAR NICHT NUR DER AMANUENSIS DES REDNERS UND SEIN MITARBEITER BEI DESSEN LITERARISCHEN ARBEITEN, SONDERN SELBST EIN NICHT ZU UNTERSCHATZENDER AUTOR UND DER ERFINDER DER KURZSCHRIFT, WELCHE ES IHM ERLAUBTE, IN DER OFFENTLICHKEIT GEHALTENE REDEN VOLLSTANDIG UND KORREKT MITZUSCHREIBEN, UNABHANGIG DAVON, WIE SCHNELL DER REDNER SPRACH. NACH CICEROS TOD ZOG SICH TIRO AUF EINEN BAUERNHOF IN DER NAHE VON PUTEOLI ZURUCK, WO ER LAUT HIERONYMUS BIS IN SEIN HUNDERTSTES JAHR LEBTE. ASCONIUS PEDIANUS (IN MILON. 38) BEZIEHT SICH AUF DAS VIERTE BUCH TIROS UBER CICEROS LEBEN.

Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology, Vol. III, herausgegeben von William L.

Smith, London 1851 [Auszug]

INNUMERABILIATUA SUNT IN ME OFFICIA, DOMESTICA, FORENSIA, URBANA, PROVINCILIA, IN RE PRIVATA, IN PUBLICA, IN STUDIIS, IN LITTERIS NOSTRIS ...

»Deine Dienste an mir sind nicht zu zahlen, im Haus und auf dem Forum, in der Stadt und in der Provinz, in privaten und offentlichen Belangen, bei meinen Studien und literarischen Arbeiten ...«

Cicero in einem Brief an Tiro, 7. November 50 v. Chr.

TEIL EINS.

SENATOR

79 v.Chr.-70 v. Chr.

URBEM, URBEM, MI RUFE, COLE ET IN ISTA LUCE VIVA!

»Rom! Bleib in Rom, mein lieber Rufus, und lebe im Licht der Offentlichkeit!«

Cicero in einem Brief an M. Caelius Rufus, 26.Juni 50 v. Chr.

KAPITEL I

Mein Name ist Tiro. Ich war sechsunddrei?ig Jahre lang Privatsekretar des romischen Staatsmannes Cicero - eine anfangs aufregende, dann uberraschende, spater muhsame und schlie?lich au?erst gefahrliche Aufgabe. Ich glaube, dass Cicero wahrend dieser Jahre mehr Zeit mit mir verbrachte als mit jedem anderen Menschen, seine Familie eingeschlossen. Ich war Zeuge privater Zusammenkunfte und Uberbringer geheimer Botschaften. Ich brachte seine Reden zu Papier, schrieb seine Briefe und seine literarischen Arbeiten, sogar seine Gedichte. Um dem Strom seiner Worte Herr zu werden, musste ich eine allgemein als Kurzschrift bekannte Technik ersinnen, mit der noch immer die Beratungen des Senats protokolliert werden und fur deren Erfindung mir kurzlich eine bescheidene Pension bewilligt wurde. Dieser Summe, einigen Erbschaften und mir wohlgesinnten Freunden verdanke ich meinen auskommlichen Ruhestand. Ich brauche nicht viel. Die Alten leben von Luft, und ich bin sehr alt - fast hundert, hei?t es.

In den Jahrzehnten nach seinem Tod bin ich immer wieder gefragt worden, gewohnlich im Flusterton, wie Cicero wirklich war. Aber ich habe stets geschwiegen. Wie sollte ich wissen, wer ein Regierungsspion war und wer nicht? Jeden Augenblick war ich auf meine Liquidierung gefasst. Da mein Leben nun fast voruber ist und ich nichts mehr zu befurchten habe - nicht einmal Folter, wurde ich doch in den Handen des Scharfrichters oder seiner Folterknechte kaum eine Sekunde durchhalten -, habe ich mich entschlossen, mit dem vorliegenden Bericht eine Antwort darauf zu geben. Ich werde mich auf meine Erinnerung und die meiner Obhut anvertrauten Dokumente stutzen. Da die mir verbleibende Zeit zwangslaufig kurz ist, will ich mich beeilen. Ich werde den Bericht in meiner Kurzschrift verfassen, auf einigen Dutzend Rollen feinsten Papyrus - Hieratica, das Beste vom Besten -, die ich zu diesem Zweck schon seit Langerem gehortet habe. Im Voraus bitte ich um Vergebung fur stilistische Mangel und Ungeschicklichkeiten. Auch bitte ich die Gotter, dass sie mich zum Ende kommen lassen, bevor das Ende mich ereilt. In seinen letzten Worten bat Cicero mich, die Wahrheit uber ihn zu erzahlen, und darum will ich mich bemuhen. Sollte er dabei nicht immer als Muster an Tugend erscheinen, sei's drum. Die Macht beschert einem Mann allerlei Annehmlichkeiten, zwei saubere Hande gehoren allerdings nur selten dazu.

Und von Macht und dem Mann werde ich erzahlen. Mit Macht meine ich die offizielle, die politische Macht - was wir in der lateinischen Sprache als Imperium bezeichnen -, die Macht uber Leben und Tod, wie sie vom Staat auf ein Individuum ubertragen wird. Hunderte von Mannern haben nach dieser Macht gestrebt. Aber Cicero war einzigartig in der Geschichte der Romischen Republik, weil ihm beim Griff nach der Macht nichts als sein eigenes Talent zur Verfugung stand. Er entstammte nicht, wie Metellus oder Hortensius, einer der bedeutenden, seit Generationen in der Politik tatigen Adelsfamilien, von deren Reputation er am Wahltag profitieren konnte. Hinter ihm stand nicht, wie bei Pompeius oder Caesar, eine machtige Armee, die seine Kandidatur unterstutzte. Er verfugte nicht wie Crassus uber ein gewaltiges Vermogen, das ihm den Weg ebnete. Er hatte nur eines - seine Stimme. Und mit der schieren Kraft seines Willens machte er aus dieser die beruhmteste Stimme der Welt.

*

Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als ich in Ciceros personlichen Dienst eintrat, ein auf seinem Familiensitz nahe Arpinum geborener Haussklave, der Rom nie zuvor gesehen hatte. Er war ein junger Rechtsanwalt, der an nervosen Erschopfungszustanden litt und sich mit jeder Menge naturlicher Gebrechen herumschlug. Kaum jemand hatte auf meine und auf seine Zukunftschancen besonders viel gegeben.

Zu jener Zeit war Ciceros Stimme nicht das Furcht einflo?ende Organ, zu dem es spater wurde. Sie war schroff, und er neigte zum Stottern. Ich glaube, sein Problem war, dass die in seinem Kopf brodelnde Menge an Worten sich bei nervlicher Anspannung in seinem Hals staute, als ob sich zwei von der nachdrangenden Herde vorwartsgeschobene Schafe gleichzeitig durch ein Gatter gequetscht hatten. Wie auch immer, der Inhalt seiner Reden war oft zu hochtrabend, als dass sein Publikum ihn verstanden hatte. »Der Gelehrte« oder »der Grieche« wurde er von seinen unaufmerksamen Zuhorern genannt - was keineswegs als Kompliment gemeint war. Obwohl niemand sein rhetorisches Talent anzweifelte, so war seine Konstitution doch zu schwachlich, als dass sie seinem Ehrgeiz ebenburtig gewesen ware. Mehrstundige Verteidigungsreden - zu jeder Jahreszeit, oft unter freiem Himmel -beanspruchten seine Stimmbander derart, dass er nicht selten tagelang heiser und ohne Stimme war. Zudem litt er unter chronischer Schlaflosigkeit und einer schwachen Verdauung. Kurzum: Wollte er, wie es sein sehnlichster Wunsch war, politische Karriere machen, so benotigte er professionelle Hilfe. Also beschloss Cicero, Rom fur einige Zeit zu verlassen und zu reisen. Erstens, um seine Krafte aufzufrischen, und zweitens, um die fuhrenden Lehrmeister der Rhetorik zu konsultieren, von denen die meisten in Griechenland und Kleinasien lebten.

Als Verantwortlicher fur die kleine Bibliothek seines Vaters verfugte ich uber eine passable Kenntnis des Griechischen, und deshalb bat Cicero seinen Vater - ganz so, als wollte er sich ein Buch aus dem Regal nehmen -, ob er mich ausleihen und mit in den Osten nehmen konne. Meine Aufgabe wurde unter anderem darin bestehen, mich um seine Termine zu kummern, Transportmittel anzuheuern und Lehrer zu bezahlen, wobei geplant war, dass ich nach einem Jahr wieder zu meinem alten Herrn zuruckkehren sollte. Am Ende sollte ich, wie so manches nutzliches Buch auch, nie zuruckgegeben werden.

Am Tag, als wir in See stechen wollten, fanden wir uns im Hafen von Brundisium ein. Das war im

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