erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.

Sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die Musikrelation der Dissonanz zu Hulfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen Wirkung wesentlich erleichtert haben? Verstehen wir doch jetzt, was es heissen will, in der Tragodie zugleich schauen zu wollen und sich uber das Schauen hinaus zu sehnen: welchen Zustand wir in Betreff der kunstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hatten, dass wir horen wollen und uber das Horen uns zugleich hinaussehnen. Jenes Streben in's Unendliche, der Flugelschlag der Sehnsucht, bei der hochsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zustanden ein dionysisches Phanomen zu erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufhauen und Zertrummern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ahnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.

Um also die dionysische Befahigung eines Volkes richtig abzuschatzen, durften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten Zeugen jener Befahigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkummerung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der Schwachung des Mythus uberhaupt eine Abschwachung des dionysischen Vermogens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides durfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkunstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthullt. Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafur, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstort, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem unzuganglichen Abgrunde ruhe und traume: aus welchem Abgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen Mythus in selig — ernsten Visionen traumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzahlen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen todten, die tuckischen Zwerge vernichten und Brunnhilde erwecken — und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen konnen!

Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt, ihr wisst auch, was fur uns die Tragodie bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus — und in ihm durft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste aber ist fur uns alle — die lange Entwurdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tuckischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort — wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet.

25.

Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befahigung eines Volkes und von einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen liegt; beide verklaren eine Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren uberaus machtigen Zauberkunsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel die Existenz selbst der» schlechtesten Welt. «Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprungliche Kunstgewalt, die uberhaupt die ganze Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklarungsschein nothig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. Konnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken — und was ist sonst der Mensch? — so wurde diese Dissonanz, um leben zu konnen, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schonheitsschleier uber ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schonen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein uberhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nachsten Augenblicks drangen.

Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklarungskraft wieder uberwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Krafte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genothigt sind. Wo sich die dionysischen Machte so ungestum erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehullt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen uppigste Schonheitswirkungen wohl eine nachste Generation schauen wird.

Dass diese Wirkung aber nothig sei, dies wurde Jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er einmal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz sich zuruckversetzt fuhlte: im Wandeln unter hohen ionischen Saulengangen, aufwartsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklarten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tonenden Lauten und rhythmischer Gebardensprache — wurde er nicht, bei diesem fortwahrenden Einstromen der Schonheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen mussen:»Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber fur nothig halt, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!«— Einem so Gestimmten durfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, entgegnen:»Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so schon werden zu konnen! Jetzt aber folge mir zur Tragodie und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten!»

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