des zu erklarenden Phanomens sagt, nicht wahr: er spricht von» jedem Weibe«; viele, namentlich die jungeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nachsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschamtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der Tat sich auf jenen Zustand etwas zugute tun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, da? sie noch von ihren Mannern begehrt werden. Da? bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorubergehender Fremder sagt oder denkt:»sollte es moglich sein — «, dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt wurden, wie aus Schopenhauers Satzen zu folgern ware, gerade die klugsten und geistigsten Weiber am meisten uber ihren Zustand offentlich frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu gebaren, in welchem» der Wille «sich zum allgemeinen Besten wieder einmal» verneinen «kann; die dummen Weiber hatten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen als alles, was sie verbergen. — Man kann nicht sagen, da? diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hatte ganz im allgemeinen darin recht, da? die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefalligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so lage doch eine Erklarung naher zur Hand als die seinige. Man konnte sich ein Gakkern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde ein Ei legen!

18

Der moderne Diogenes. — Bevor man den Menschen sucht, mu? man die Laterne gefunden haben. — Wird es die Laterne des Zynikers sein mussen?

19

Immoralisten. — Die Moralisten mussen es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral sezieren. Wer aber sezieren will, mu? toten: jedoch nur, damit besser gewu?t, besser geurteilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt seziere. Leider aber meinen die Menschen immer noch, da? jeder Moralist auch durch sein gesamtes Handeln ein Musterbild sein musse, welches die anderen nachzuahmen hatten: sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die alteren Moralisten sezierten nicht genug und predigten allzuhaufig: daher ruhrt jene Verwechslung und jene unangenehme Folge fur die jetzigen Moralisten.

20

Nicht zu verwechseln. — Die Moralisten, welche die gro?artige, machtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarchs, oder den reinen, erleuchteten, warmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Manner und Frauen als schwere Probleme der Erkenntnis behandeln und der Herkunft derselben nachspuren, indem sie das Komplizierte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten Begriffs-Tauschungen und die von alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, — diese Moralisten sind am meisten gerade von denen verschieden, mit denen sie doch am meisten verwechselt werden: von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweisen und Seelenzustande uberhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glanze von Gro?e und Reinheit versteckt wahnen. Die Moralisten sagen:»hier sind Probleme«, und die Erbarmlichen sagen:»hier sind Betruger und Betrugereien«; sie leugnen also die Existenz gerade dessen, was jene zu erklaren beflissen sind.

21

Der Mensch als der Messende. — Vielleicht hatte alle Moralitat der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Ma? und das Messen, die Waage und das Wagen entdeckten (das Wort» Mensch «bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner gro?ten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unme?bar und unwagbar sind, aber es ursprunglich nicht zu sein schienen.

22

Prinzip des Gleichgewichts. — Der Rauber und der Machtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Rauber zu schutzen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ahnliche Wesen, nur da? der zweite seinen Vorteil anders als der erste erreicht: namlich durch regelma?ige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das namliche Verhaltnis wie zwischen Handelsmann und Seerauber, welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht ratlich scheint, da ubt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklugerung der Seerauber-Moral: so wohlfeil wie moglich kaufen — womoglich fur Nichts als die Unternehmungskosten — , so teuer wie moglich verkaufen). Das Wesentliche ist: jener Machtige verspricht, gegen den Rauber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine Moglichkeit zu leben. Denn entweder mussen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammentun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm fur seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefahrliche Wesen in Schach halt: das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres hat namlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnadig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernahren konnen. Tatsachlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der fruher immer moglichen volligen Vernichtung atmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. — Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Machten. Eine Organisation zum Ubergewicht ware ratlicher, wenn man dabei so stark wurde, um die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen einzelnen machtigen Schadentuer, so wird dies gewi? versucht. Ist aber der eine ein Stammhaupt oder hat er gro?en Anhang, so ist die schnelle entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fehde zu gewartigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wunschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, fur ihren Lebensunterhalt mit der notigen Regelma?igkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und Angriff genau auf die Hohe zu bringen, auf der die Macht des gefahrlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, da? in ihrer Wagschale jetzt gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund miteinander sein? — Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff fur die alteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt:»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermoge dieser Vergeltung erhalten: so da?, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht, der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermoge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestorten Machtverhaltnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzustanden ein Stuck Macht, ein Gewicht mehr. — Innerhalb einer Gemeinde, in der alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das hei?t gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts, Schande und Strafe da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den ubergreifenden einzelnen, der durch den Ubergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachteile erfahrt, die den fruheren Vorteil aufheben und uberwiegen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Ubergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel gro?eres Gegengewicht auf, gegen Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler erinnert, da? er mit seiner Handlung aus der Gemeinde und deren Moral — Vorteilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, au?er ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Mehr, ein Etwas von der Harte des Naturzustandes; an diesen will sie eben erinnern.

23

Ob die Anhanger der Lehre vom freien Willen strafen durfen? — Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Ubeltater uberhaupt fur seine Tat verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Grunden handelte und nicht unbewu?t oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, da? er die schlechteren Grunde den besseren vorzog: welche er also gekannt haben mu?. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, da? seine Unkenntnis, zum

Вы читаете Der Wanderer und sein Schatten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×