Kitty ging nach drau?en. Sie sah, wie aus den Fenstern der Hauser der Lichtschein fiel. Uberall hatte die Seder-Feier begonnen. In diesem Augenblick erzahlten ringsum die Vater ihren Familien die jahrtausendealte Geschichte vom Auszug der Kinder Israels, wie sie seit jeher von den Oberhauptern der Familie erzahlt worden war, und wie sie auch in alle Zukunft erzahlt werden wurde.

Es begann zu nieseln, und Kitty ging rascher auf den flackernden Lichtschein zu, der aus der Scheune fiel. Ari sa?, mit dem Rucken zu ihr, auf einem Heubundel. Sie ging zu ihm hin und legte ihm die Hand von hinten auf die Schulter.

»Ari, wir wollen mit dem Seder anfangen.«

Er wandte den Kopf, hob den Blick, und Kitty wich einen Schritt zuruck, so sehr erschrak sie, als sie Aris Gesicht sah, in dem sich eine Qual spiegelte, wie sie sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ari sah sie an, doch er schien sie kaum zu erkennen. Er wandte sich wieder ab, verbarg das Gesicht in den Handen und lie? die Schultern sinken.

»Ari — es ist Zeit fur den Seder.«

»Mein Leben lang — mein ganzes Leben lang — habe ich mit ansehen mussen, wie man sie umgebracht hat, die ich liebe — einen nach dem andern — alle.«

Die Worte kamen aus der abgrundigen Tiefe einer grenzenlosen Verzweiflung. Kitty war erschuttert und erschreckt. Dieser Mann, der von tiefer Qual geschuttelt wurde, war ihr unbekannt.

»Ich bin mit ihnen gestorben. Tausend Tode bin ich gestorben. Und jetzt bin ich innerlich leer — und allein.«

»Ari — Ari —.«

»Warum mussen wir halbe Kinder dazu verurteilen, an solchen Orten zu leben? Ich verstehe nichts mehr! — Dieses wunderbare Madchen — dieser Engel — warum — warum mu?te auch sie umgebracht werden?«

Ari erhob sich muhsam und unsicher. Alle Energie, alle Kraft und Selbstbeherrschung hatten ihn verlassen. Dieser Mann, das war nicht Ari ben Kanaan, das war ein mudes, zerschlagenes Wrack.

»Warum mussen wir kampfen um das Recht zu leben — immer wieder, jeden Tag von neuem?«

Die Jahre der Spannung, die Jahre des Kampfes und des herzzerbrechenden Kummers schlugen wie eine Flut uber ihm zusammen. Ari hob das schmerzerfullte Gesicht zum Himmel auf und ballte die Hande zur Faust. »Warum, o Gott, warum la?t man uns nicht in Ruhe! Warum lassen uns die Menschen nicht leben!« Er lie? den Kopf auf die Brust sinken, stand da mit hangenden Schultern und zitterte.

»O Ari«, rief Kitty weinend. »Ari! Was habe ich dir angetan! Wie war es nur moglich, da? ich so gar nicht begriff! Ari, Liebster — was mu?t du gelitten haben. Kannst du mir jemals verzeihen, da? ich dir so weh getan habe.«

»Ich bin nicht richtig bei mir«, sagte Ari mit schwacher Stimme. »Bitte sag den andern nichts von dem, was du hier gesehen hast.« »Nein«, sagte Kitty. »Aber wir mussen jetzt ins Haus. Sie warten auf uns.«

»Kitty!«

Sehr langsam kam er auf sie zu, bis er vor ihr stand und in ihre Augen sah. Langsam sank er auf seine Knie, schlang die Arme um sie und druckte seinen Kopf an ihren Scho?.

Ari ben Kanaan weinte.

Es horte sich seltsam und erschreckend an. Er schuttete seine ganze Seele aus, er weinte fur all die vielen Male in seinem Leben, da er es sich nicht gestattet hatte, zu weinen.

Kitty druckte seinen Kopf an sich, strich ihm durch das Haar und flusterte ihm trostend zu.

»Geh nicht fort von mir«, sagte Ari weinend.

Wie hatte sie sich danach gesehnt, solche Worte von ihm zu horen! Ja, dachte sie, ich werde bei dir bleiben, heute nacht und ein paar Tage lang, denn jetzt brauchst du mich, Ari. Doch selbst in diesem Augenblick, wo du zum erstenmal in deinem Leben zu weinen wagst, schamst du dich deiner Tranen. Du brauchst mich jetzt, in diesem Augenblick; doch morgen — morgen wirst du wieder Ari ben Kanaan sein. Du wirst wieder ganz der starke, trotzige Ari ben Kanaan sein, der sein Herz gegen die Tragik verhartet. Und dann — dann wirst du mich nicht mehr notig haben.

Sie half ihm aufstehen und trocknete seine Tranen. Er konnte sich kaum auf den Fu?en halten. Kitty legte seinen Arm uber ihre Schultern und stutzte ihn. So gingen sie langsam aus der Scheune hinaus. Durch das Fenster konnten sie sehen, wie Sara die Kerzen der Menora ansteckte. Ari blieb stehen, lie? sie los, richtete sich auf und stand aufrecht, gro? und stark. Schon jetzt war er wieder Ari ben Kanaan.

»Ehe wir hineingehen, Kitty, mu? ich dir etwas sagen. Ich mu? dir sagen, da? ich Dafna nie so geliebt habe, wie ich dich liebe. Du wei?t, was fur ein Leben du an meiner Seite zu erwarten hast?«

»Ja, Ari, ich wei? es.«

»Ich bin nicht wie andere Manner. Vielleicht dauert es Jahre — oder auch noch langer — bis es mir einmal moglich ist, zu sagen, da? mein Verlangen nach dir zuerst kommt, vor allem anderen — vor den Bedurfnissen dieses Landes. Wird es dir moglich sein, das zu verstehen?«

»Ja, Ari, ich werde es verstehen, immer.«

Alle betraten das Speisezimmer. Die Manner setzten kleine Kappen auf.

Dov und Jordana, und Ari und Kitty, Sutherland und Sara. Ihre Herzen waren schwer vor Kummer. Als Ari an das Kopfende der Tafel ging, um den Platz von Barak einzunehmen, beruhrte Sutherland seinen Arm.

»Falls Sie nichts dagegen haben«, sagte Sutherland. »Ich bin hier der Alteste — erlauben Sie, da? ich den Seder lese?«

»Es ist uns eine Ehre«, sagte Ari.

Sutherland ging an das Kopfende der Tafel, an den Platz des Oberhauptes der Familie. Alle setzten sich, und jeder offnete sein Exemplar der Haggada. Er begann mit den vorgeschriebenen Segensspruchen. Dann nickte Sutherland Dov Landau als dem Jungsten der bei Tisch Versammelten zu, und Dov rausperte sich und las: »Warum ist dieser Abend anders als alle anderen Abende des Jahres?«

»Der heutige Abend ist anders als alle anderen, weil wir heute den wichtigsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes feiern. An diesem heutigen Abend feiern wir den Auszug der Kinder Israels aus Agypten, ihren Aufbruch aus der Sklaverei in die Freiheit.«

ENDE

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