ich mit aller Macht zu vergessen versucht hatte. Dabei wu?te ich, da? dieser Augenblick eines Tages kommen wurde — irgendwie furchtete ich mich davor — und gleichzeitig bin ich froh, da? er jetzt da ist.«

»Es ist vier Jahre her, da? Tom gefallen ist. Wirst du denn niemals daruber hinwegkommen?«

»Ich wei?«, sagte sie leise, »Frauen verlieren im Krieg ihre Manner, das ist nun einmal so. Ich habe um Tom geweint. Wir liebten uns sehr, doch ich wu?te, da? ich weiterleben wurde. Ich wei? nicht einmal, wie er gestorben ist.«

»Daruber ist nicht viel zu sagen«, sagte Mark. »Tom war beim Marinekorps, und er ging mit zehntausend anderen irgendwo an Land, um einen Kustenstreifen zu besetzen. Er wurde getroffen und war tot. Kein Heldentum, keine Orden — nicht einmal so viel Zeit, um zu sagen: ,Gru?e Kitty und sage ihr, da? ich sie liebe.' Es erwischte ihn halt, und es war aus. Das ist alles.«

Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Mark zundete eine Zigarette an und gab sie ihr.

»Aber warum mu?te Sandra sterben?« sagte sie. »Warum mu?te auch mein Kind sterben?«

»Ich bin nicht Gott. Darauf kann ich keine Antwort geben.«

Sie setzte sich neben Mark auf die Mauer und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Atem ging unruhig. »Ich glaube, weiter kann ich nicht mehr davonlaufen«, sagte sie.

»Warum willst du es mir nicht erzahlen?«

»Ich kann nicht —.«

»Mir scheint, es ware allmahlich an der Zeit.«

Mehrmals setzte Kitty zum Sprechen an, doch es kam nur ein leises Gestammel heraus. Zu tief waren die Jahre des Schreckens in ihrem Inneren verschlossen. Sie warf die Zigarette ins Wasser und sah Mark an. Er hatte recht; er war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich anvertrauen konnte.

»Es war sehr schlimm«, sagte sie, »als ich das Telegramm mit der Nachricht wegen Tom bekam. Ich liebte ihn so sehr. Doch dann — kaum zwei Monate spater — starb Sandra an Kinderlahmung. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an alles. Meine Eltern brachten mich nach Vermont in ein Heim.«

»In eine Anstalt?«

»Nein — so nennt man das bei armen Leuten —, bei mir hie? es Erholungsheim fur Nervenleidende. Ich wei? nicht, wie viele Monate ich dort blieb. Ich konnte mich hinterher nicht mehr an alles erinnern. Ich war Tag und Nacht in einem dichten Nebel. Melancholie nennt man das.«

Kittys Stimme wurde plotzlich ruhig und fest. Die Tur war aufgesprungen, und die stumme Qual fand den Weg ins Freie. »Eines Tages hob sich der Schleier, der uber meinem Geist gelegen hatte, und ich war mir wieder bewu?t, da? Tom und Sandra tot waren. Es tat weh, und der Schmerz blieb. In jeder Minute des Tages erinnerte mich alles an sie. Jedesmal, wenn ich jemanden singen, jemanden lachen horte — jedesmal sah ich ein Kind vor mir. Jeder Atemzug, den ich tat, war Schmerz. Ich betete — betete darum, Mark, da? mich der Nebel wieder einhullen moge. Ja, ich betete darum, den Verstand zu verlieren, um mich nicht mehr erinnern zu mussen.«

Sie erhob sich, stand gro? und aufrecht da, und die Tranen liefen ihr die Wangen hinunter. »Ich ri? aus, ging nach New York. Versuchte mich in der Masse zu verlieren. Ich wohnte in einem kleinen Zimmer — ein Tisch, ein Stuhl, eine Gluhbirne.« Sie lachte kurz und ironisch. »Es fehlte nicht einmal das Neonschild drau?en vor dem Fenster, das an- und ausging. Alles dran, nicht wahr? Ich ging stundenlang ziellos durch die Stra?en, bis sich all die Gesichter undeutlich verwischten, oder ich sa? einfach da und sah aus dem Fenster, tagelang. Tom, Sandra, Tom, Sandra — der Gedanke an sie verlie? mich keinen Augenblick.«

Kitty fuhlte Mark hinter sich. Seine Hande ergriffen ihre Schultern. Drau?en auf dem Wasser naherte sich der Schleppfischer der Hafeneinfahrt. Sie rieb ihre Wange an Marks Hand.

»Eines Abends hatte ich zu viel getrunken. Du kennst mich, ich kann schrecklich viel vertragen. Ich sah einen Jungen, der eine grune Uniform anhatte, wie die von Tom. Er war allein, und er war gro? und gut gewachsen — wie Tom. Wir haben dann zusammen weitergetrunken. Ich erwachte in einem billigen, schmutzigen Hotelzimmer — irgendwo, keine Ahnung. Ich war immer noch halb betrunken. Ich wankte zum Spiegel und sah mich im Spiegel an. Ich war nackt. Der Junge war auch nackt — lag quer uber dem Bett.« »Herrgott noch mal, Kitty, nun la? doch ...«

»Nein, Mark, schon gut — la? mich zu Ende erzahlen. Ich stand und sah in den Spiegel — wie lange, wei? ich nicht. Ich war unten angelangt, am tiefsten Punkt meines Lebens. Weiter hinunter konnte ich nicht mehr. Das hier — das war das Ende. Der Junge war bewu?tlos — seltsam, ich erinnere mich nicht einmal mehr an seinen Namen. Ich sah seine Rasierklingen im Bad liegen, und ich sah das Rohr der Gasleitung, und eine Minute lang oder vielleicht auch eine Stunde — ich wei? nicht mehr, wie lange, stand ich am Fenster und sah hinunter auf den Burgersteig, der zehn Stockwerke tiefer lag. Ich war am Ende meines Lebens angelangt, doch ich hatte nicht die Kraft, Schlu? zu machen. Und dann geschah etwas Seltsames, Mark. Ich wu?te plotzlich, da? ich weiterleben wurde, auch ohne Tom und Sandra, und auf einmal war der Schmerz vorbei.«

»Kitty, liebe Kitty — ich habe so nach dir gesucht, und ich wollte dir so gern helfen.«

»Ich wei?. Aber das war etwas, mit dem ich allein fertig werden mu?te, glaube ich. Ich fing wieder an, als Kinderpflegerin zu arbeiten, ich sturzte mich in die Arbeit. Als der Krieg in Europa zu Ende war, ubernahm ich sofort die Leitung dieses griechischen Waisenheims — ein Posten, wo der Arbeitstag vierundzwanzig Stunden hat. Das war genau das, was ich brauchte, bis an den Rand meiner Krafte zu arbeiten. Mark, ich — ich habe hundert Briefe an dich angefangen. Aber irgendwie hatte ich zu gro?e Angst vor diesem Augenblick. Und jetzt bin ich froh, bin froh, da? ich es hinter mir habe.«

»Ich bin froh, da? ich dich gefunden habe«, sagte Mark.

Sie wandte sich nach ihm um und sah ihn an. »Das also war die Geschichte von Kitty Fremont ...« Mark nahm sie bei der Hand, und sie gingen den Deich entlang zuruck zum Kai. Vom Dom-Hotel klang Musik heruber.

IV.

Brigadier Bruce Sutherland, Kommandeur von Zypern, sa? an einem gro?en Schreibtisch in seinem auf der Hippocrates-Stra?e gelegenen Haus in Famagusta, einige vierzig Meilen von Kyrenia entfernt. Von kleinen, verraterischen Anzeichen abgesehen — ein leichter Ansatz von Leibesfulle in der Taillengegend und einige wei?e Haare an den Schlafen, glaubte man ihm seine funfundfunfzig Jahre nicht. Dagegen verriet die stocksteife Haltung eindeutig den Militar. Es klopfte, und sein Adjutant, Major Fred Caldwell, kam herein.

»'n Abend, Caldwell. Schon zuruck von Kyrenia? Nehmen Sie Platz.« Sutherland schob die Akten beiseite, reckte sich und legte seine Brille auf den Schreibtisch. Er wahlte von dem Pfeifenstander eine Pfeife und stopfte sie. Caldwell nahm dankend eine Zigarre, und die beiden Manner begannen, sich in dicke Wolken zu hullen. Der Brigadier druckte auf die Klingel, und der griechische Boy erschien in der Tur.

»Zwei Gin und Soda, bitte.«

Sutherland stand auf und kam nach vorn. Er trug eine dunkelrote Samtjacke, Er lie? sich in einem Ledersessel nieder, der vor dem wandhohen Bucherregal stand. »Haben Sie Mark Parker angetroffen?«

»Jawohl, Sir.«

»Und was ist Ihr Eindruck?«

Caldwell zuckte die Schultern. »Dem au?eren Anschein nach ist ihm naturlich nicht das geringste vorzuwerfen. Er will weiter nach Palastina und ist hierhergekommen, um diese amerikanische Kinderpflegerin Katherine Fremont zu besuchen.«

»Fremont? O ja, diese reizende Frau, die wir beim Gouverneur kennenlernten.«

»Ich sage ja, Sir — es sieht alles ganz harmlos aus. Trotzdem, Parker ist nun mal Reporter, und ich mu? immer noch an den Arger denken, den wir durch ihn in Holland hatten.«

»Aber, aber«, sagte Sutherland. »Wir alle haben im Krieg Fehler gemacht. Er hat uns nur zufallig bei einem Fehler erwischt, den wir gemacht haben. Glucklicherweise haben wir den Krieg gewonnen, und ich glaube nicht, da? es zehn Leute gibt, die sich noch an die Geschichte von damals erinnern.«

Die Getranke kamen. »Auf Ihr Wohl.«

Sutherland setzte das Glas ab und strich sich seinen wei?en Seehundsschnurrbart. Doch Fred Caldwell gab sich noch nicht zufrieden.

»Sir«, begann er erneut, »falls Parker nun neugierig wird und anfangt, sich hier genauer umzusehen — meinen Sie nicht, es ware besser, ihn durch ein paar Leute von der CID beschatten zu lassen?« »Horen Sie, mein Lieber, lassen Sie den Mann in Frieden. Man braucht einem Pressemann nur ,Nein' zu sagen, und man hat mit ziemlicher Sicherheit in ein Wespennest gestochen. Berichte uber Fluchtlinge sind heutzutage nicht mehr gefragt, und ich glaube nicht, da? er sich fur die Fluchtlingslager hier interessieren wird. Dennoch wollen wir nicht riskieren, seine Neugier zu wecken, indem wir ihm irgend etwas verbieten. Wenn Sie mich fragen — ich glaube, es war falsch,

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