als sei er hohl und jemand trommele darin. Er schlo? die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nichts wieder in sich auf» kommen lassen. Er hatte alle Hoffnung zerstampft und begraben. Er lie? die Arme auf den Boden gleiten und legte das Gesicht auf die Hande. Die Stadt ging ihn nichts an. Er wollte nicht, da? sie ihn anginge. Er wollte weiter, wie vorher, gleichgultig die Sonne auf das schmutzige Pergament scheinen lassen, das als Haut uber seinen Schadel gespannt war, wollte atmen, Lause toten, nicht denken – so wie er es seit langem getan hatte. Er konnte es nicht. Das Beben in ihm horte nicht auf. Er walzte sich auf den Rucken und streckte sich flach aus. Uber ihm war jetzt der Himmel mit den Wolkchen der Flakgeschosse. Sie zerfaserten rasch und trieben vor dem Winde dahin. Er lag eine Weile so, dann konnte er auch das nicht mehr aushaken. Der Himmel wurde zu einem blauen und wei?en Abgrund, in den er hineinzufliegen schien. Er drehte sich um und setzte sich auf. Er blickte nicht mehr auf die Stadt. Er blickte auf das Lager, und er blickte zum ersten Male darauf, als erwarte er Hilfe von dort. Die Baracken dosten wie vorher in der Sonne. Auf dem Tanzplatz hingen die vier Leute immer noch an den Kreuzen. Der Scharfuhrer Breuer war verschwunden, aber der Rauch vom Krematorium stieg weiter auf; er war nur dunner geworden. Entweder verbrannte man gerade Kinder, oder es war befohlen worden, mit der Arbeit aufzuhoren. 509 zwang sich, das alles genau zu betrachten. Dieses war seine Welt. Keine Bombe hatte sie getroffen. Sie lag unerbittlich da wie immer. Sie allein beherrschte ihn; das da drau?en, jenseits des Stacheldrahtes, ging ihn nichts an. In diesem Augenblick schwieg die Flak. Es traf ihn, als sei ein Reifen von Larm gesprungen, der ihn fest umspannt gehalten hatte. Eine Sekunde lang glaubte er, er habe nur getraumt und wache gerade auf. Mit einem Ruck drehte er sich um. Er hatte nicht getraumt. Da lag die Stadt und brannte. Da waren Qualm und Zerstorung, und es ging ihn doch etwas an. Er konnte nicht mehr erkennen, was getroffen war, er sah nur Rauch und das Feuer, alles andere verschwamm, aber es war auch egal: die Stadt brannte, die Stadt, die unveranderlich erschienen war, unveranderlich und unzerstorbar wie das Lager. Er schrak zusammen. Ihm war plotzlich, als seien hinter ihm von allen Turmen alle Maschinengewehre des Lagers auf ihn gerichtet. Rasch blickte er herum. Nichts war geschehen. Die Turme waren leer wie vorher. Auch in den Stra?en war niemand zu sehen. Doch es half nichts – eine wilde Angst hatte ihn jah wie eine Faust im Genick gepackt und schuttelte ihn. Er wollte nichtsterben! Jetzt nicht! Jetzt nicht mehr! Hastig ergriff er seine Kleidungsstucke und kroch zuruck. Er verwickelte sich dabei in den Mantel Lebenthals und stohnte und fluchte und ri? ihn unter seinen Knien fort und kroch weiter zur Baracke, eilig, tief erregt und verwirrt – als fluchte er noch vor etwas anderem als nur vor dem Tode.

II

Baracke 22 hatte zwei Flugel, die je von zwei Stubenaltesten kommandiert wurden. In der zweiten Sektion des zweiten Flugels hausten die Veteranen. Es war der schmalste und feuchteste Teil, aber das kummerte sie wenig; wichtig war fur sie nur, da? sie zusammenlagen. Das gab jedem mehr Widerstandskraft. Sterben war ebenso ansteckend wie Typhus, und einzeln ging man in dem allgemeinen Krepieren leicht mit ein, ob man wollte oder nicht. Zu mehreren konnte man sich besser wehren. Wenn einer aufgeben wollte, halfen ihm die Kameraden durchzuhalten. Die Veteranen im Kleinen Lager lebten nicht langer, weil sie mehr zu essen hatten; sie lebten, weil sie sich einen verzweifelten Rest von Widerstand bewahrt hatten. In der Ecke der Veteranen lagen zur Zeit hundertvierunddrei?ig Skelette. Platz war nur da fur vierzig. Die Betten bestanden aus Brettern, vier ubereinander. Sie waren kahl oder mit altem faulendem Stroh bedeckt. Es gab nur ein paar schmutzige Decken, um die jedesmal, wenn die Besitzer starben, bitter gekampft wurde. Auf jedem Bett lagen mindestens drei bis vier Menschen. Das war selbst fur Skelette zu eng; denn Schulter und Beckenknochen schrumpften nicht. Man hatte etwas mehr Platz, wenn man seitlich lag, gepackt wie Sardinen; aber trotzdem horte man nachts oft genug das dumpfe Aufschlagen, wenn jemand im Schlaf herunterfiel. Viele schliefen hockend, und wer Gluck hatte, dem starben seine Bettgenossen abends. Sie wurden dann hinausgeschafft, und er konnte sich fur eine Nacht besser ausstrecken, bevor neuer Zuwachs kam. Die Veteranen hatten sich die Ecke links von der Tur gesichert. Sie waren noch zwolf Mann. Vor zwei Monaten waren sie vierundvierzig gewesen. Der Winter hatte sie kaputt gemacht. Sie wu?ten alle, da? sie im letzten Stadium waren; die Rationen wurden standig kleiner, und manchmal gab es ein bis zwei Tage uberhaupt nichts zu essen; dann lagen die Toten zu Haufen drau?en. Von den zwolf war einer verruckt und glaubte, er sei ein deutscher Schaferhund. Er hatte keine Ohren mehr; sie waren ihm abgerissen worden, als man SS-Hunde an ihm trainiert hatte. Der jungste hie? Karel und war ein Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Eltern waren tot; sie dungten das Kartoffelfeld eines frommen Bauern im Dorfe Westlage. Die Asche der Verbrannten wurde namlich im Krematorium in Sacke gefullt und als kunstlicher Dunger verkauft. Sie war reich an Phosphor und Kalzium. Karel trug das rote Abzeichen des politischen Gefangenen. Er war elf Jahre alt. Der alteste Veteran war zweiundsiebzig. Er war ein Jude, der um seinen Bart kampfte. Der Bart gehorte zu seiner Religion. Die SS hatte ihn verboten, aber der Mann hatte immer wieder versucht, ihn wachsen zu lassen. Er war im Arbeitslager jedesmal dafur uber den Bock gekommen und verprugelt worden. Im Kleinen Lager hatte er mehr Gluck. Die SS kummerte sich hier weniger um die Regeln und kontrollierte auch selten; sie hatte zu viel Angst vor Lausen, Dysenterie, Typhus und Tuberkulose. Der Pole Julius Silber hatte den Alten Ahasver genannt, weil er fast ein Dutzend hollandischer, polnischer, osterreichischer und deutscher Konzentrationslager uberlebt hatte. Silber war inzwischen an Typhus gestorben und bluhte als Primelbusch im Garten des Kommandanten Neubauer, der die Totenasche gratis bekam; doch der Name Ahasver war geblieben. Das Gesicht des Alten war im Kleinen Lager geschrumpft, aber der Bart war gewachsen und jetzt Heimat und Wald fur Generationen kraftiger Lause.

Der Stubenalteste der Sektion war der fruhere Arzt Dr. Ephraim Berger. Er war wichtig gegen den Tod, der die Baracke eng umstand. Im Winter, wenn die Skelette auf dem Glatteis gefallen waren und sich die Knochen gebrochen hatten, hatte er manche schienen und retten konnen. Das Hospital nahm niemand vom Kleinen Lager auf; es war nur da fur Leute, die arbeitsfahig waren und fur Prominente. Im Gro?en Lager war das Glatteis im Winter auch weniger gefahrlich gewesen; man hatte die Stra?e wahrend der schlimmsten Tage mit Asche aus dem Krematorium bestreut. Nicht aus Rucksicht auf die Gefangenen, sondern um brauchbare Arbeitskrafte zu behalten. Seit der Eingliederung der Konzentrationslager in den allgemeinen Arbeitseinsatz wurde mehr Wert darauf gelegt. Als Ausgleich arbeitete man die Haftlinge allerdings rascher zu Tode. Die Abgange machten nichts aus; es wurden taglich genug Leute verhaftet. Berger war einer der wenigen Gefangenen, die Erlaubnis hatten, das Kleine Lager zu verlassen. Er wurde seit einigen Wochen in der Leichenhalle des Krematoriums beschaftigt. Stubenalteste brauchten im allgemeinen nicht zu arbeiten, aber Arzte waren knapp; deshalb hatte man ihn kommandiert. Es war vorteilhaft fur die Baracke. Uber den Lazarettkapo, den Berger von fruher kannte, konnte er so manchmal etwas Lysol, Watte, Aspirin und ahnliches fur die Skelette bekommen. Er besa? auch eine Flasche Jod, die unter seinem Stroh versteckt war. Der wichtigste Veteran von allen jedoch war Leo Lebenthal. Er hatte geheime Verbindungen zum Schleichhandel des Arbeitslagers und, wie es hie?, sogar welche nach drau?en. Wie er das machte, wu?te keiner genau. Es war nur bekannt, da? zwei Huren aus dem Etablissement »Die Fledermaus«, das vor der Stadt lag, dazugehorten. Auch ein SS-Mann sollte beteiligt sein; doch davon wu?te niemand wirklich etwas. Und Lebenthal sagte nichts. Er handelte mit allem. Man konnte durch ihn Zigarettenstummel bekommen, eine Mohrrube, manchmal Kartoffeln, Abfalle aus der Kuche, einen Knochen und hier und da eine Scheibe Brot. Er betrog niemanden; er sorgte nur fur Zirkulation. Der Gedanke, heimlich fur sich allein zu sorgen, kam ihm nie. Der Handel hielt ihn am Leben; nicht das, womit er handelte. 509 kroch durch die Tur. Die schrage Sonne hinter ihm schien durch seine Ohren. Sie leuchteten einen Augenblick wachsern und gelb zu beiden Seiten des dunklen Kopfes. »Sie haben die Stadt bombardiert«, sagte er keuchend. Niemand antwortete. 509 konnte noch nichts sehen; es war dunkel in der Baracke nach dem Licht drau?en. Er schlo? die Augen und offnete sie wieder. »Sie haben die Stadt bombardiert«, wiederholte er. »Habt ihr es nicht gehort?« Auch diesmal sagte keiner etwas. 509 sah jetzt Ahasver neben der Tur. Er sa? auf dem Boden und streichelte den Schaferhund. Der Schaferhund knurrte; er hatte Angst. Die verfilzten Haare hingen ihm uber das vernarbte Gesicht, und dazwischen funkelten die erschreckten Augen. »Ein Gewitter«, murmelte Ahasver. »Nichts als ein Gewitter! Ruhig, Wolf – ruhig!« 509 kroch weiter in die Baracke hinein. Er begriff nicht, da? die anderen so gleichgultig waren. »Wo ist Berger?« fragte er. »Im Krematorium.« Er legte den Mantel und die Jacke auf den Boden. »Will keiner von euch 'raus?« Er sah Westhof und Bucher an. Sie erwiderten nichts. »Du wei?t doch, da? es verboten ist«, sagte Ahasver schlie?lich. »Solange Alarm ist.« »Der Alarm ist vorbei.« »Noch nicht.« »Doch. Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert.« »Das hast du nun schon oft genug gesagt«, knurrte jemand aus dem Dunkel. Ahasver blickte auf. »Vielleicht werden sie ein paar Dutzend von uns zur Strafe dafur erschie?en.« »Erschie?en?« Westhof kicherte. »Seit wann erschie?en sie hier?«

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