»Was hast du noch?« fragte Bucher.
»Konserven.« Lebenthal sah nach seiner Uhr. »Ich mu? los -«
Er holte unter seinem Bett einen neuen amerikanischen Regenmantel hervor und zog ihn an. Keiner sagte mehr etwas dazu. Hatte er ein Auto drau?en gehabt, hatte es die anderen auch nicht gewundert. »Verliert die Adresse nicht«, sagte er zu Bucher.
»Ware schade, wenn wir uns nicht wiedersehen wurden.«
»Wir werden sie nicht verlieren,«
»Wir gehen zusammen«, sagte Ahasver. »Karel und ich.« Sie standen vor Berger.
»Bleibt noch ein paar Wochen hier«, sagte der. »Ihr seid noch nicht kraftig genug.«
»Wir wollen weg.« »Wi?t ihr, wohin?« »Nein.«
»Warum wollt ihr dann fort?«
Ahasver machte eine unbestimmte Gebarde. »Wir waren lange genug hier.«
Er trug einen altmodischen, grauschwarzen Havelock, einen Mantel mit einer Art Kutscherkragen, der bis zum Ellbogen reichte. Lebenthal, der bereits im Geschaft war, hatte ihn fur ihn besorgt. Er stammte aus dem Nachla? eines Gymnasialprofessors, der beim letzten Bombardement getotet worden war.
Karel war in eine Kombination von amerikanischen Uniformstucken gekleidet.
»Karel mu? fort«, sagte Ahasver.
Bucher kam hinzu. Er musterte Karels Anzug. »Was ist mit dir los?« »Die Amerikaner haben ihn adoptiert. Das Regiment, das zuerst hier durch» kam. Sie haben einen Jeep geschickt, ihn zu holen.
Ich fahre ein Stuck mit.« »Haben sie dich auch adoptiert?«
»Nein. Ich fahre nur das Stuck mit.« »Und dann?«
»Dann?« Ahasver blickte zum Tal hinunter. Sein Mantel flatterte im Winde. »Da sind so viele Lager, wo ich Bekannte hatte -«
Berger blickte ihn an. Lebenthal hat ihn richtig angezogen, dachte er. Er sieht, wie ein Pilgrim aus.
Er wird von einem Lager zum anderen pilgern. Von einem Grabe zum anderen. Aber wer hatte als Gefangener schon den Luxus eines Grabes gehabt? Was wollte er dann suchen?
»Wei?t du«, sagte Ahasver. »Manchmal trifft man Leute ganz unvermutet irgendwo auf der Stra?e.«
»Ja, Alter.«
Sie sahen den beiden nach.
»Sonderbar, da? wir alle so auseinandergehen«, sagte Bucher.
»Gehst du auch bald?«
»Ja. Wir sollten uns aber nicht einfach so verlieren.«
»Doch«, sagte Berger. »Doch.«
»Wir sollten uns wiedertreffen. Nach alldem hier. Irgendwann.«
»Nein.«
Bucher blickte auf. »Nein«, wiederholte Berger. »Wir sollen es nicht vergessen. Aber wir sollen auch keinen Kult daraus machen. Sonst bleiben wir immer im Schatten dieser verfluchten Turme.«
Das Kleine Lager war leer. Man hatte es gesaubert und die Bewohner im Arbeitslager und in den SS-Kasernen untergebracht. Man hatte Strome von Wasser und Seife und desinfizierenden Mitteln gebraucht; aber der Geruch nach Tod und Schmutz und Elend hing immer noch daruber. In die Stacheldrahtzaune waren uberall Durchgange eingeschnitten worden.
»Glaubst du, da? du nicht mude werden wirst?« fragte Bucher Ruth.
»Nein.«
»Dann wollen wir gehen. Was ist heute fur ein Tag?«
»Donnerstag.«
»Donnerstag. Gut, da? die Tage wieder Namen haben. Hier hatten sie nur Zahlen.
Sieben in einer Woche. Alle gleich.«
Sie hatten sich ihre Papiere von der Lagerverwaltung geben lassen. »Wohin wollen wir gehen?«
fragte Ruth.
»Dorthin.« Bucher zeigte auf den Hang, auf dem das wei?e Haus stand. »Wir wollen zuerst dorthin gehen und es nahe ansehen. Es hat uns Gluck gebracht.«
»Und dann?«
»Dann? Wir konnen hierher zuruckkommen. Es gibt Essen hier.«
»La? uns nicht zuruckkommen. Nie mehr.«
Bucher sah Ruth uberrascht an. »Gut. Warte. Ich hole unsere Sachen.«
Es war nicht viel; aber sie hatten Brot fur einige Tage und zwei Buchsen kondensierter Milch dabei.
»Gehen wir wirklich?« fragte sie.
Er sah die Spannung in ihrem Gesicht. »Ja, Ruth«, sagte er.
Sie verabschiedeten sich von Berger und gingen zu der Tur, die in die Stacheldrahtumzaunung des Kleinen Lagers geschnitten war. Sie waren schon einige Male au?erhalb des Lagers gewesen, wenn auch nie weit – aber es war jedesmal wieder die gleiche Erregung, plotzlich auf der anderen Seite zu stehen. Unsichtbar schienen immer noch der elektrische Strom dazusein und die Maschinengewehre, die genau auf den kahlen Streifen Weg rundum eingestellt waren, ein Schauer durchlief sie beim ersten Schritt uber die Drahteinfassung hinaus. Doch dann war endlos die Welt da.
Sie gingen langsam nebeneinander her. Es war ein weicher, verhangener Tag.
Sie hatten durch Jahre kriechen, rennen und schleichen mussen – jetzt gingen sie ruhig und aufrecht, und keine Katastrophe folgte. Niemand scho? hinter ihnen her. Niemand schrie. Niemand schlug auf sie ein.
»Es ist unbegreiflich«, sagte Bucher. »Jedesmal wieder.«
»Ja. Es macht einem fast Angst.«
»Sieh nicht zuruck. Wolltest du dich umsehen?«
»Ja. Es sitzt einem noch im Nacken. Als ob jemand im Kopfe hockte und ihn herumdrehen wollte.«
»La? uns einmal versuchen, es zu vergessen. Solange wir konnen.«
»Gut.«
Sie gingen weiter und uberquerten einen Weg. Eine Wiese lag vor ihnen, grun und uberweht vom Gelb der Primeln. Sie hatten sie oft vom Lager aus gesehen. Bucher dachte einen Augenblick an die armseligen, vertrockneten Primeln Neubauers neben Baracke 22. Er schuttelte es ab. »Komm, wir wollen da hindurchgehen.«
»Darf man das?«
»Ich glaube, wir durfen vieles. Und wir wollen doch keine Angst mehr haben.«
Sie fuhlten das Gras unter ihren Fu?en und an ihren Schuhen. Auch das kannten sie nicht mehr. Sie kannten nur den harten Grund der Appellplatze. »La? uns nach links gehen«, sagte Bucher.
Sie gingen nach links. Ein Haselnu?busch streifte sie. Sie gingen um ihn herum und bogen seine Zweige auseinander und fuhlten seine Blatter und Knospen. Auch das war neu. »Komm, jetzt gehen wir nach rechts«, sagte Bucher.
Sie gingen nach rechts. Es schien kindisch, aber es gab ihnen eine tiefe Befriedigung.
Sie konnten tun, was sie wollten. Niemand befahl ihnen etwas. Niemand schrie und scho?. Sie waren frei. »Es ist wie ein Traum«, sagte Bucher. »Man hat nur Angst, da? man aufwacht und da? dann wieder die Baracke und der Ekel da ist.«
»Es ist eine andere Luft hier.« Ruth atmete tief. »Es ist lebendige Luft. Keine tote.«
Bucher sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war etwas gerotet, und ihre Augen glanzten plotzlich.
»Ja, es ist lebendige Luft. Sie riecht. Sie stinkt nicht.«
Sie standen neben den Pappeln. »Wir konnen uns hierhersetzen«, sagte er. »Niemand wird uns aufjagen. Wir konnen sogar tanzen, wenn wir wollen.«
Sie setzten sich. Sie betrachteten die Kafer und Schmetterlinge. Im Lager hatte es nur Ratten gegeben und