Die Einladung
Die drei Dursleys sa?en bereits am Tisch, aber keiner von ihnen blickte auf, als Harry in die Kuche kam und sich dazusetzte. Onkel Vernons breites rotes Gesicht war hinter der morgendlichen Tagespost versteckt und Tante Petunia, die Lippen uber ihren Pferdezahnen gespitzt, viertelte eine Grapefruit.
Dudley sa? mit zornigem Schmollmund da und schien noch mehr Platz einzunehmen als sonst. Und das sollte schon etwas hei?en, denn er beanspruchte immer eine ganze Seite des quadratischen Tisches fur sich. Als Tante Petunia mit einem zittrigen»Bitte sehr, Diddyschatz«ein ungezuckertes Viertel der Grapefruit auf Dudleys Teller legte, warf er ihr einen finsteren Blick zu. Sein Leben hatte eine hochst unerfreuliche Wendung genommen, seit er mit dem Jahreszeugnis in die Sommerferien gekommen war.
Wie ublich hatten Onkel Vernon und Tante Petunia viele Ausreden fur seine schlechten Noten gefunden; Tante Petunia pflegte felsenfest zu behaupten, Dudley sei ein hoch begabter Junge, nur leider wurden die Lehrer ihn einfach nicht verstehen. Onkel Vernon hingegen versicherte, er wolle ohnehin keinen kleinen streberhaften Weichling haben. Auch den im Zeugnis erhobenen Vorwurf, Dudley wurde andere Schuler schikanieren, taten sie ab -»Er ist nun mal ein kleiner Rabauke, doch er wurde keiner Fliege was zuleide tun!«, sagte Tante Petunia mit Tranen in den Augen.
Allerdings fanden sich am Ende des Schreibens einige sorgsam gewahlte Bemerkungen der Schulkrankenschwester, die nicht einmal Onkel Vernon und Tante Petunia wegerklaren konnten. Wie sehr Tante Petunia auch jammerte, Dudley habe eben gro?e Knochen und bestehe ansonsten doch aus Babyspeck, er sei ein Junge, der noch wachse und viel zu essen brauche – es blieb dabei, da? die Schulausstatter keine Knickerbocker mehr fuhrten, die ihm noch pa?ten. Der Schulkrankenschwester war nicht entgangen, was Tante Petunia – die so scharfe Augen hatte, wenn es darum ging, Fingerabdrucke auf ihren schimmernden Mobeln zu entdecken und das Kommen und Gehen der Nachbarn zu beobachten – einfach nicht sehen wollte: da? Dudley keineswegs Extraportionen zu essen brauchte, sondern ungefahr Gro?e und Gewicht eines jungen Killerwals erreicht hatte.
Und so kam es, da? nach vielen Streitereien und Wutanfallen, die Harrys Zimmerboden erschutterten, und nach vielen Tranen Tante Petunias der neue Speiseplan eingefuhrt wurde. Sie heftete den Diatzettel, den die Schulkrankenschwester aus Smeltings geschickt hatte, an den Kuhlschrank, raumte samtliche Lieblingsleckereien Dudleys aus – klebrige Softdrinks und Kuchen, Schokoriegel und Hamburger – und fullte ihn stattdessen mit Obst und Gemuse und all jenen Dingen, die Onkel Vernon als»Kaninchenfutter«bezeichnete. Um Dudley die Sache ein wenig schmackhafter zu machen, bestand Tante Petunia darauf, da? auch der Rest der Familie Diat hielt. So reichte sie Harry jetzt ebenfalls ein Viertel Grapefruit. Harry entging nicht, da? es viel kleiner war als Dudleys Stuck. Tante Petunia schien zu glauben, um Dudley bei Laune zu halten, musse sie zumindest dafur sorgen, da? er wenigstens mehr zu essen bekam als Harry.
Doch Tante Petunia wu?te nicht, was unter dem losen Dielenbrett oben in Harrys Zimmer versteckt war. Sie hatte keine Ahnung, da? Harry sich keineswegs an die Diat hielt. Kaum hatte er Wind davon bekommen, da? er den Sommer uber von Karotten wurde leben mussen, hatte Harry Hedwig mit einem Hilferuf zu seinen Freunden geschickt, und sie hatten diese Herausforderung glanzend bewaltigt. Von Hermine hatte Hedwig eine gro?e Schachtel zuckerfreier Knabbereien zuruckgebracht (Hermines Eltern waren Zahnarzte). Hagrid, der Wildhuter von Hogwarts, war mit einem Beutel voll selbst gebackener Felsenkekse in die Bresche gesprungen (Harry hatte sie noch nicht angeruhrt; Hagrids Backkunste kannte er zur Genuge). Mrs Weasley jedoch hatte die Familieneule Errol mit einem riesigen Fruchtekuchen und verschiedenen Pasteten zu Harry geschickt. Der arme, schon etwas altersschwache Errol hatte ganze funf Tage gebraucht, um sich von dem Flug zu erholen. Und schlie?lich hatte Harry an seinem Geburtstag (den die Dursleys glatt ubergangen hatten) vier kostliche Geburtstagskuchen erhalten, je einen von Ron, Hermine, Hagrid und Sirius. Harry hatte immer noch zwei davon ubrig, und so begann er in der Vorfreude auf ein herzhaftes Fruhstuck oben im Zimmer klaglos seine Grapefruit zu essen.
Onkel Vernon legte die Zeitung zur Seite, schnaubte tief durch und besah sich sein eigenes Stuck Grapefruit.
»Das ist alles?«, sagte er ungnadig zu Tante Petunia.
Tante Petunia warf ihm einen strengen Blick zu und nickte mit gespitztem Mund hinuber zu Dudley, der sein Grapefruit-Viertel bereits aufgegessen hatte und nun Harrys Stuck mit einem sehr sauren Ausdruck in den kleinen Schweinsauglein ins Visier nahm.
Onkel Vernon lie? einen tiefen Seufzer vernehmen, der seinen ausladenden, buschigen Schnurrbart erzittern lie?, und nahm den Loffel zur Hand.
Jemand lautete an der Tur. Onkel Vernon wuchtete sich hoch und ging hinaus in den Flur. Wahrend sich Tante Petunia am Teekessel zu schaffen machte, stibitzte Dudley blitzschnell Onkel Vernons restliche Grapefruit.
Harry horte Stimmen an der Haustur, ein Lachen und eine barsche Entgegnung Onkel Vernons. Dann fiel die Tur ins Schlo? und vom Flur kam das Gerausch zerrei?enden Papiers.
Tante Petunia stellte die Teekanne auf den Tisch und sah sich verdutzt nach Onkel Vernon um; sie mu?te nicht lange warten, denn kurz darauf erschien er mit zornrotem Gesicht.
»Du«, blaffte er Harry an.»Ins Wohnzimmer. Sofort.«
Verdutzt und ohne die geringste Ahnung, was zum Teufel er diesmal wieder verbrochen haben sollte, erhob sich Harry und folgte Onkel Vernon ins Zimmer nebenan. Onkel Vernon schlug die Tur hinter ihnen zu.
»So«, sagte er, marschierte hinuber zum Kamin, wandte sich um und fixierte Harry, als wolle er ihn auf der Stelle verhaften.»So.«
Harry hatte am liebsten»Na was denn«gesagt, doch er wollte Onkel Vernons Gemutsverfassung so fruh am Morgen lieber nicht auf die Probe stellen, da sie durch Mangel an Nahrung ohnehin stark belastet war. So versuchte er ein wenig verwirrt auszusehen.
»Das hier ist gerade angekommen«, sagte Onkel Vernon. Er fuchtelte mit einem Blatt purpurroten Schreibpapiers in Harrys Richtung.»Ein Brief. Betrifft dich.«
Harry war nun tatsachlich verdutzt. Wer sollte seinetwegen an Onkel Vernon schreiben? Wen kannte er, der Briefe mit der normalen Post schickte?
Onkel Vernon starrte Harry zornig an, dann hob er den Brief und begann laut vorzulesen.
Liebe Mr und Mrs Dursley,
wir wurden einander nie vorgestellt, doch ich bin sicher, Sie haben von Harry eine Menge uber meinen Sohn Ron gehort. Wie Harry Ihnen vielleicht gesagt hat, findet nachsten Montagabend das Finale der Quidditch- Weltmeisterschaft statt, und mein Mann Arthur hat es soeben geschafft, uber seine Beziehungen zur Abteilung fur Magische Spiele und Sportarten noch ein paar Karten zu besorgen.
Ich hoffe doch, da? Sie uns gestatten, Harry mit zum Spiel zu nehmen, denn ein solches Ereignis darf man sich keinesfalls entgehen lassen; England ist zum ersten Mal seit drei?ig Jahren wieder Gastgeberland und Karten sind kaum noch zu bekommen. Naturlich wurden wir uns freuen, wenn Harry fur die restlichen Sommerferien bei uns bleiben konnte. Wir werden ihn dann zum Zug begleiten, der ihn zuruck in die Schule bringt.
Am besten schickt Harry uns Ihre Antwort auf dem ublichen Wege, denn der Muggelbrieftrager hat bei uns noch nie etwas eingeworfen, und ich bin mir nicht mal sicher, ob er wei?, wo unser Haus ist.
In der Hoffnung, Harry bald zu sehen, und mit freundlichen Gru?en Molly Weasley
PS: Ich hoffe doch, wir haben genug Marken draufgeklebt.
Onkel Vernon verstummte, schob die Hand in die Brusttasche und zog noch etwas hervor.
»Sieh dir das an«, knurrte er.
Er hob den Umschlag hoch, in dem Mrs Weasleys Brief gekommen war. Harry mu?te sich einen Lachanfall verkneifen. Der Umschlag war uber und uber mit Briefmarken beklebt, mit Ausnahme eines kleinen Quadrats auf der Vorderseite, in das Mrs Weasley in Winzschrift die Adresse der Dursleys hineingekritzelt hatte.
»Na also, hat doch gereicht mit den Briefmarken«, sagte Harry, ganz so, als ob Mrs Weasleys Fehler jedem unterlaufen konnte. Onkel Vernons Augen blitzten.
»Der Brieftrager war sehr interessiert«, sagte er mit zusammengebissenen Zahnen.»Wollte unbedingt wissen, wo dieser Brief herkommt. Deshalb hat er auch gelautet. Hielt es offenbar fur komisch.«
Harry sagt nichts. Andere Menschen mochten nicht verstehen, warum Onkel Vernon einen solchen Aufstand wegen ein paar uberzahliger Briefmarken machte, doch Harry lebte nun lange genug bei den Dursleys, um zu