sich rebellierend gegen die Enge, die das Leben in der Zivilisation ihm aufzwingt. Ja! Diese Zivilisation, wohin wird sie den Menschen noch fuhren! Vierzig Jahre und langer habe ich unter den Wilden gelebt und sie und ihre Art zu leben studiert. Und jetzt lebe ich seit einigen Jahren hier in England, und seither habe ich mein Bestes getan, auf meine eigene, einfaltige Weise vom Wesen der Kinder des Lichts zu lernen. Und was habe ich gefunden? Da? man einen gro?en Abgrund zugestopft hat? Nein, nur einen ganz kleinen, einen, wie ihn der Gedanke eines einfachen, schlichten Mannes mit Leichtigkeit zu uberspringen vermag. Ich behaupte, so wie der Wilde, so ist auch der wei?e Mann, nur mit dem Unterschied, da? der letztere erfindungsreicher ist und mehr von der Gabe der Logik und der Kombination besitzt. Und noch ein Unterschied: der Wilde - so wie ich ihn kennengelernt habe - ist in einem gro?en Ausma?e frei von der Gier nach Geld, die sich wie eine Krebsgeschwulst in das Herz des wei?en Mannes fri?t. So niederschmetternd der Gedanke auch sein mag; aber in allen wesentlichen Dingen sind die Sohne der Zivilisation mit dem Wilden identisch. Ich wage zu behaupten, da? die hochst zivilisierte und mit den Segnungen der Kultur versehene wei?e Lady, die diese Worte liest, fur die Gedanken eines alten Trottels mit dem simplen Geist eines Jagers nicht viel mehr als ein Lacheln ubrig hat, wenn sie an ihre schwarze, perlengeschmuckte Geschlechtsgenossin denkt; nicht viel anders wird sich der gepflegte, kultivierte und eitle Mu?igganger verhalten, der mit gezierten Manieren in seinem Club sein Dinner einnimmt, dessen Kosten allein so hoch sind, da? sich eine hungernde Familie eine ganze Woche davon ernahren konnte. Aber, liebe Lady, so sagt doch, was sind das fur schone Dinge, die Ihr selbst dort um Euren Hals tragt? Haben sie nicht eine uberaus frappierende Ahnlichkeit mit den Perlenketten, die die Wilde sich um ihren Hals hangt, besonders dann, wenn Ihr Euer wunderschones, tief ausgeschnittenes Kleid tragt? Die Art, in der Ihr Euch beim Klange von Hornern und Trommeln im Kreise dreht, Euer Gefallen an Farbemitteln und allerlei Puder, die Art, in der Ihr Euch ach so gern dem reichen Krieger unterwerft, der sich Euch zum Heiraten gefangen hat, und die Schnelligkeit, mit der sich Euer Geschmack an aller Art gefiederten Kopfschmuckes wandelt - all dies deutet doch auf eine gewisse Ver-wandtschaft hin; und schlie?lich verge?t nicht, da? Ihr in den fundamentalen Prinzipien Eurer Natur ohnehin nicht anders seid als jene schwarzen Frauen. Und was Euch anbetrifft, verehrte Herren der Schopfung, die Ihr ebenfalls uber meine Worte lacht: Gesetzt, zu Euch kommt ein Mann und schlagt Euch ins Gesicht, wahrend Ihr gerade Eure exquisiten Tafelfreuden genie?t, dann werden wir ja sehen, wieviel von einem Wilden auch in Euch steckt.

Mit Exempeln solcher Art konnte ich nun endlos fortfahren, aber wozu ware das schon gut! Zivilisation ist nichts weiter als eine mit einer dunnen Silberschicht uberzogene Art der Wildheit. Die ist nichts weiter als aufgeblasene Hoffart; sie kommt daher, gleichsam wie ein Nordlicht, das bald wieder erlischt, und das den Himmel nur noch schwarzer als vorher erscheinen la?t. Aus dem Boden der Barbarei ist sie emporgesprossen wie ein Baum, und ich glaube, da? sie fruher oder spater auch wieder zu Boden fallen wird wie ein Baum, sie wird untergehen, so wie einst die agyptische Zivilisation untergegangen ist, oder wie die griechische untergangen ist oder die romische, und wie so viele andere schon zuvor, an die die Welt sich heute kaum noch erinnert. Verstehen Sie mich jedoch nun nicht als jemanden, der in Bausch und Bogen alle unsere modernen Institutionen verdammt, die doch zum Teil den gesammelten Erfahrungsschatz der Menschheit darstellen, angewandt zu unser aller Wohl. Naturlich gibt es gro?e Errungenschaften - Hospitaler zum Beispiel; und doch: bedenken Sie, wir sind es, die die kranken Menschen heranziehen, mit denen sie sich fullen. In der Wildnis gibt es diese nicht. Auch wird sich hier die Frage aufwerfen: Wie viele dieser segensreichen Einrichtungen verdanken wir dem Christentum als einer von der Zivilisation gesondert zu betrachtenden Institution? Und so neigt sich die Waage wieder zur anderen Seite, und das Ganze sieht so aus: hier ein Gewinn -dort ein Verlust, und uber beiden Waagschalen Mutter Naturs gro?er Durchschnittswert, deren Gesamtsumme einen der Faktoren darstellt in jener gewaltigen Gleichung, in der das Resultat ebenso gro? sein wird wie die unbekannte Gro?e ihres Zweckes.

Ich entschuldige mich nicht und bitte nicht um Nachsicht wegen dieser meiner Abschweifung, insbesondere, da dies ein Vorwort ist, uber das alle jungen Leute und die, denen es niemals gefallt, nachzudenken (und das ist eine sehr schlechte Angewohnheit), naturlich leicht hinweglesen werden. Es erscheint mir uberaus wunschenswert, da? wir manchmal versuchen, unsere eigenen Grenzen, die die Natur uns gesetzt hat, zu erkennen und zu verstehen, damit wir nicht vom Stolz auf unser Wissen allzusehr in die Hohe getragen werden. Der Geist des Menschen ist fast unbegrenzt, und er dehnt sich wie ein elastisches Band, aber die menschliche Natur ist wie ein eiserner Ring. Wir konnen, soviel wir auch wollen, an seiner Innenseite entlanggehen, wir konnen ihn auf Hochglanz polieren, wir konnen ihn sogar auf einer Seite ein wenig flachdrucken, wodurch er sich auf der anderen ein wenig nach au?en druckt, aber wir werden niemals, solange die Welt besteht und der Mensch existiert, in der Lage sein, seinen Durchmesser zu vergro?ern. Er ist das einzig Feste, Unveranderliche -unverruckbar wie die Sterne, dauerhafter noch und harter als die machtigsten Gebirge, unveranderbar wie die Wege des Ewigen. Die menschliche Natur ist das Kaleidoskop Gottes, und die kleinen Splitter gefarbten Glases, unsere Leidenschaften, Hoffnungen, Angste, Freuden und unser Trachten nach Gut und Bose und was wei? ich noch alles; sie drehen sich in Seiner machtigen Hand so sicher und unaufhaltsam, wie es auch die Sterne tun, und unablassig formen sie sich zu neuen Mustern und Kombinationen. Die einzelnen Elemente des Ganzen bleiben jedoch dieselben, und auf immer und ewig wird die Anzahl der bunten Glassplitter gleich bleiben; sie wird weder gro?er noch kleiner werden.

Da dies so ist, sehen wir einmal die Sache aus Grunden der Anschaulichkeit so: wir bestehen aus zwanzig Teilen; neunzehn davon sind wild und einer zivilisiert. Und wenn wir wirklich unser Wesen verstehen wollen, dann mussen wir auf die neunzehn ungezahmten, wilden Teile unserer Natur achten, und nicht auf den einen zwanzigsten, welcher, wiewohl in Wirklichkeit so unbedeutend, die neunzehn anderen uberlagert und verdeckt und dadurch ihr eigentliches Wesen verandert erscheinen la?t, just wie die Schuhwichse den Stiefel in einem anderen Glanze erstrahlen la?t oder das Furnier die rohe Tischplatte. Und eben auf diese neunzehn dauerhaften und nutzlichen »wilden« Teile unseres Wesens fallen wir in der Not zuruck, und nicht auf den einen geschliffenen, in Wirklichkeit jedoch so substanzlosen. Sollte man nicht verlangen konnen, da? die Zivilisation unsere Tranen fortwischt? Und doch weinen wir, und oft kann nichts uns Trost spenden. Sie verabscheut doch zutiefst das Kriegswesen; und doch kampfen wir fur Haus und Hof, fur Ehre und Ruhm, und wir frohlocken im Kampfe. Und dergleichen Exempel lassen sich zahllose finden, in allen Bereichen unseres Lebens.

Wenn unser Herz uns wehtut und unser Haupt in den Staub geschickt wird, dann la?t uns die Zivilisation vollig im Stich. Dann kriechen wir zuruck und legen uns wie kleine Kinder an die gro?e Brust von Mutter Natur, auf da? sie doch unseren Schmerz lindern moge und uns vergessen mache, oder da? sie uns zumindest der Erinnerung an den von ihr selbst vollfuhrten Schlag entledige. Wer hat nicht schon einmal in seiner unendlichen Gram die Sehnsucht verspurt, an dem Antlitz der allumfassenden Mutter emporzublicken; auf einem hohen Berge zu liegen und den Lauf der Wolken zu betrachten, die dort oben am Himmel entlangziehen; dem Tosen der Brandung zu lauschen, die sich im ewigen Rhythmus am Gestade bricht; sein eigenes armseliges kleines Leben fur eine Weile mit ihrem gewaltigen Atem verschmelzen zu lasen? Wer hat in solchen Momenten nicht schon den Wunsch verspurt, den beruhigenden, steten Schlag ihres ewigen Herzens zu spuren, sein Leiden zu vergessen und sein eigenes Ich ganzlich aufsaugen zu lassen von jener ungeheuren, unmerklich pulsierenden Energie, aus der wir sind, aus der wir entstanden, und mit der wir wieder eins werden, die uns unser Leben gab und die uns eines fernen Tages auch wieder unser Ende bringen wird.

Und so geschah es also, da? ich, als ich in meiner tiefen Trauer so in meinem eichenholzgetafelten Vestibul meines Hauses in Yorkshire auf und ab schritt, da? ich mich wieder einmal danach sehnte, mich in die Arme von Mutter Natur zu werfen. Nicht die Natur, wie Ihr sie kennt, verehrter Leser, die Natur, die da aus wohlgepflegten Waldern winkt oder uns in Gestalt wohlbestellter Kornfelder zulachelt, sondern jene Natur, die so ist, wie sie an jenem Tage war, als das Schopfungswerk vollendet wurde, unbefleckt noch vom schmutzigen Schwei?e der Menschheit. Ich wollte wieder dort hin, wo die wilden Tiere waren, zuruck in das Land, dessen Geschichte keiner kennt, zuruck zu den wilden Eingeborenen, die ich liebe, obwohl einige von ihnen beinahe ebenso gnadenlos sind wie die Politische Okonomie. Vielleicht konnte ich dort lernen, an den armen Harry in seinem kuhlen Grab zu denken, ohne das Gefuhl zu haben, als breche mir das Herz entzwei.

Doch Schlu? nun mit diesem egoistischen Gerede, und ich will auch nichts mehr davon erwahnen. Aber wenn Ihr, deren Blick vielleicht eines Tages auf diese meine zu Papier gebrachten Gedanken fallen sollte, schon an dieser Stelle angekommen seid, dann bitte ich Euch, auszuharren und weiterzulesen, denn was ich Euch zu berichten habe, sind die abenteuerlichsten Begebenheiten; sie sind noch nie berichtet worden und werden nie wieder berichtet werden.

Allan Quatermain

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