Befreiung zu zeigen, ging ich langsam hinaus, setzte mich in den Wagen und gab Gas.

Ivan sa? wie der Staatsfeind Nr. 1 seine drei Jahre ab, vom ersten bis zum letzten Tag ohne Freigang und ohne Bewahrung. Am Tag seiner Entlassung wurde er abgeschoben. Ein Jahr spater rief er mich aus Moskau an.

›Ich habe dich nie um etwas gebeten‹, sagte er, ›aber morgen hat sie Geburtstag.Wurdest du ihr bitte einen Blumenstrau? vorbeibringen?‹

›Warum hast du nicht gesagt, dass sie eine Aufseherin ist?‹, fragte ich ihn.

›Was spielt das fur eine Rolle?‹, entgegnete er.

›Nein Ivan, ich gehe nicht noch mal in den Knast‹, sagte ich.

›Musst du auch nicht‹, beruhigte mich mein Freund. ›Ihre Schicht ist um 18.00 Uhr zu Ende, sie fahrt einen roten Passat.‹

Drau?en schneite es ohne Ende. Mit einem solchen sibirischen Winter hatten die Berliner nicht gerechnet, und die Stadt war lahmgelegt. Uberall Staus. Ich fuhr durch verschneite Stra?en nach Tegel. Der Knast sah aus wie das Schloss der Schneekonigin. Ich parkte gegenuber vom Tor und beobachtete von dem warmen Wagen aus die Stra?e - mit einem Blumenstrau? auf den Knien. Nicht nur Frau Muller, das gesamte Personal schien um 18.00 Uhr Schichtwechsel zu haben. Alle drei Minuten sprangen aus dem Schneeberg vor dem Tor Autos auf die Stra?e, aber ein Passat war nicht dabei. Es ist viel Zeit vergangen, uberlegte ich. Vielleicht hat sie den Wagen langst gewechselt. Vielleicht hat sie den Job gewechselt, vielleicht hat sie sich fur heute krankgemeldet. Die Autoscheiben der vorbeifahrenden Autos waren zugefroren, man konnte das Geschlecht der Insassen nicht erkennen. Nach einer halben Stunde merkte ich au?erdem, dass die Autos auch von der anderen Seite des Knastes losfuhren. Dort musste es also noch einen Ausgang geben.

›Pech gehabt, Ivan‹, dachte ich und startete den Motor. Just in diesem Augenblick fuhr ein roter Passat an mir vorbei und loste sich sofort im Dunkeln auf. Ich nahm die Verfolgung auf. Ivans Affare fuhr nicht nach Berlin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ich blinkte und hupte, alles umsonst, sie merkte nichts. Laut ihrem Kennzeichen konnten wir noch gut 300 Kilometer so weiterfahren, durch nachtliche Walder und Dorfer, uber verschneite Stra?en. Ich gratulierte mir innerlich zu diesem Blodsinn. Anstatt zu Hause gemutlich vor dem Fernseher zu sitzen, verfolgte ich mit ungewissem Ziel einen roten Passat durch das ausgestorbene Brandenburg. Ich ging auf die Uberholspur und blinkte noch einmal direkt vor ihrer Nase. Diesmal bemerkte sie mich. Wir hielten beide an. Ich stieg aus, klopfte an ihr Fenster, sie machte die Tur auf. Tatsachlich eine Frau, gro?, brunett mit grunen Augen, so wie Ivan sie beschrieben hatte.

›Entschuldigen Sie die Storung, Blumen aus Moskau. ‹ Mit diesen Worten ubergab ich ihr den Blumenstrau?.

›Ich wei?, von wem die sind‹, lachelte sie. ›Bestellen Sie ihm schone Gru?e.‹

Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte.

›Alles Gute zum Geburtstag‹, sagte ich.

›Hab ich doch erst in einer Woche‹, sagte sie und fuhr los.

Ich stand allein auf der Autobahn und dachte, gut, dass ich es doch geschafft habe.«

Sergej schloss die Augen. Alle schwiegen eine Weile.

»Und weiter?«, fragte meine Frau.

»Nichts weiter«, sagte Sergej.

»Hat denn dieser Ivan noch einmal angerufen?«,

»Nein. Aber irgendwas sagt mir, er wird noch anrufen. Wenn es wieder schneit und sie wieder Geburtstag hat.«

Nachwort

Nachbarn sind die gro?te Herausforderung. Eine weit gro?ere als die eigene Familie. Wenn du mit den Nachbarn kannst, dann auch mit dem Rest der Welt«, hat mein Opa gern gesagt. Er selbst war in seinem Leben mindestens ein Dutzend Mal umgezogen und wusste, wovon er sprach. Die Kinder werden gro? und ziehen weg, die Eltern und die Gro?eltern sterben, aber die Nachbarn sind immer da, uberall und allgegenwartig. Wenn die einen wegziehen, sterben, heiraten oder auswandern, ziehen sofort andere nach. Sie stellen unsere Flexibilitat, unsere Kommunikationsfahigkeit, unsere humanistische Weltsicht taglich in Frage. Sie sind die gro?te Prufung unseres Lebens. Ich glaube, dass die Spezies Mensch ein Probewurf der Natur ist. Schaffen wir es, fur eine bestimmte Zeit friedlich mit- und nebeneinander zu leben, dann werden mit Wesen unseres Schlages weitere Planeten und Galaxien besiedelt. Wenn wir uns jedoch als unfahig zum Zusammenleben erweisen und gegenseitig ausloschen, dann wird von der Natur ein neues, weniger individualistisches Modell favorisiert.

Deswegen kann der Mensch nirgends auf Dauer allein sein. Selbst wenn er eine unbewohnte Insel mitten im Ozean findet, ziehen spatestens nach einer Woche andere Leute nach: eine Familie mit Kleinkindern, eine Rentnerin mit einem dicken Dackel, ein arbeitsloser Klarinettist, der jeden Tag proben muss, eine mollige Alleinstehende, ein Mann mit rasiertem Kopf, der Selbstgesprache auf der Treppe fuhrt - die ganze Mischpoke eben, die ublichen Verdachtigen. Es sind in der Regel komische Leute mit wildfremden Sitten. Sie stehen auf, wenn die anderen schlafen gehen, und wenn die anderen wach werden, schlafen sie ein. Sie joggen gern in der Wohnung und tanzen Kasatschok, aber nur wenn sie uber einem wohnen. Wenn sie unter einem wohnen, klopfen sie wie blod gegen die Decke. Wohnen sie nebenan, spielen sie Tennis gegen die Wand und horen laut Musik am offenen Fenster. Sie singen am fruhen Morgen und abends kucken sie Fernsehserien, in denen viel gebrullt wird. Im Sommer grillen sie auf dem Balkon. Im Winter stohnen sie im Schlafzimmer. Man muss sie nicht mogen. Man muss sie nicht verstehen. Man muss nicht mit ihnen Kuchen backen, aber es empfiehlt sich trotzdem, sie kennenzulernen. In gewisser Weise tragen wir alle fureinander Verantwortung. Wir wohnen alle unter einem Dach. 

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