«Was haben Sie dieses Jahr gelesen? Das interessiert mich sehr.» Sie war wirklich nett.

«Ach, hauptsächlich haben wir die Anglosachsen durchgenommen. Beowulf und den alten Grendel.

Und Lord Randall, mein Sohn und alles das. Aber wir müssen auch manchmal andere Bücher lesen.

Ich habe Der Heimgekehrte von Thomas Hardy gelesen, und Romeo und Julia und Julius -»

«Ach, Romeo und Julia! Wie schön! Hat Ihnen das nicht sehr gefallen?» Sie benahm sich wahrhaftig nicht wie eine Nonne.

«Doch, sehr. Ich habe es sehr gern gelesen. Ein paar Stellen haben mir zwar nicht so gefallen, aber im ganzen ist es sehr eindrucksvoll.»

«Was hat Ihnen nicht gefallen? Erinnern Sie sich noch daran?»

Ehrlich gesagt war es eigentlich peinlich, mit ihr über Romeo und Julia zu sprechen. Ich meine, manche Stellen in diesem Stück sind doch ziemlich sexy, und sie war ja eine Nonne. Aber da sie mich fragte, erklärte ich es ihr näher. «Ich bin überhaupt nicht übermäßig begeistert von Romeo und Julia», sagte ich. «Natürlich gefallen sie mir, aber - ich weiß nicht. Manchmal ärgert man sich über die beiden. Ich meine, es hat mir viel mehr leid getan, daß Mercutio getötet wird, als daß Romeo und Julia sterben. Ich habe eben Romeo überhaupt nicht mehr so gern gehabt, nachdem Mercutio von diesem andern umgebracht wurde - von Julias Vetter - wie hieß der nur?»

«Tybalt.»

«Stimmt. Tybalt», sagte ich - ich vergesse seinen Namen immer wieder. «Daran war Romeo schuld.

Diesen Mercutio hatte ich im ganzen Stück am liebsten. Ich weiß nicht. Alle diese Montagues und Capulets sind schon recht - besonders Julia -, aber Mercutio war - ich kann es nicht recht erklären.

Er war klug und unterhaltend und so. Es macht mich immer verrückt, wenn jemand umgebracht wird - besonders, wenn er so klug und unterhaltend und so ist -, und wenn jemand anderer daran schuld ist. Romeo und Julia waren jedenfalls selber schuld.»

«In welcher Schule sind Sie, mein Lieber?» fragte sie. Vermutlich wollte sie von diesem Romeo-und-Julia-Thema loskommen.

Ich antwortete, ich sei in Pencey, und sie hatte den Namen schon gehört. Das sei eine sehr gute Schule, sagte sie. Ich ließ es dabei. Dann sagte die andere, die Geschichtslehrerin, daß sie sich auf den Weg machen müßten. Ich nahm ihren Bestellzettel, aber sie wollten mich nicht bezahlen lassen.

Die mit der Brille nahm mir den Zettel wieder weg.

«Sie sind schon mehr als großzügig gewesen», sagte sie. «Sie sind sehr lieb.» Sie war wirklich sympathisch. Sie erinnerte mich ein bißchen an Ernest Morrows Mutter, der ich im Zug begegnet war. Hauptsächlich, wenn sie lächelte. «Wir haben uns so gerne mit Ihnen unterhalten», sagte sie.

Ich antwortete, ich hätte auch sehr gerne mit ihnen gesprochen. Das meinte ich ganz ehrlich. Es hätte mir vielleicht noch mehr Vergnügen gemacht, wenn ich bei dem ganzen Gespräch nicht gefürchtet hätte, daß sie plötzlich versuchen würden herauszufinden, ob ich katholisch sei. Katholiken wollen immer herausfinden, ob man katholisch ist. Ich erlebe das oft, weil mein Familienname irisch ist und die meisten Leute irischer Abstammung katholisch sind.

Tatsächlich war mein Vater früher katholisch. Er trat aus, als er meine Mutter heiratete. Aber auch wenn die Katholiken überhaupt nicht wissen, wie man heißt, wollen sie immer herausfinden, ob man katholisch ist. In Whooton lernte ich einen katholischen Schüler namens Louis Gorman kennen. Er war der erste, dem ich dort begegnete. Er und ich saßen am ersten Schultag vor dem verdammten Krankensaal, weil wir auf die obligatorische Untersuchung warten mußten, und dabei fingen wir an, über Tennis zu reden. Er interessierte sich sehr für Tennis und ich auch. Er sagte, er gehe jeden Sommer auf die Turniere in Forest Hills, und ich sagte, das täte ich auch, und dann redeten wir eine Weile über Tenniskanonen. Für sein Alter verstand er ziemlich viel davon. Dann fragte er mitten im Gespräch: «Hast du zufällig gesehen, wo hier die katholische Kirche ist?» An der Art, wie er fragte, merkte man deutlich, daß er nur herausfinden wollte, ob ich katholisch sei. Nur das. Er hatte keine Vorurteile oder so, aber er wollte es einfach wissen. Er unterhielt sich gern über Tennis, aber er hätte sich noch lieber darüber unterhalten, wenn ich katholisch gewesen wäre. So etwas macht mich verrückt. Ich behaupte nicht, daß es unser Gespräch störte - das nicht -, aber es half dem Gespräch wahrhaftig auch nicht weiter. Deshalb war ich eben froh, daß diese beiden Nonnen nicht danach fragten, ob ich katholisch sei. Es hätte unser Unterhaltung zwar nicht verdorben, aber wahrscheinlich wäre dann doch alles anders geworden. Ich werfe das den Katholiken nicht vor; das sicher nicht.

Vermutlich wäre ich genauso wie sie, wenn ich katholisch wäre. Es ist eigentlich dasselbe wie mit den Koffern, von denen ich vorhin geredet habe. Ich will damit nur sagen, daß es nicht gerade zu einem netten Gespräch beiträgt. Mehr meine ich nicht damit.

Als die beiden Nonnen gehen wollten, tat ich etwas Blödes und Peinliches. Ich rauchte gerade, und während ich aufstand und mich verabschiedete, blies ich ihnen aus Versehen Rauch ins Gesicht. Ich tat es absolut nicht absichtlich. Ich entschuldigte mich wahnsinnig, und sie reagierten sehr höflich und nett, aber es war doch sehr peinlich.

Als sie fort waren, tat es mir leid, daß ich ihnen nur zehn Dollar für ihre Sammlung gegeben hatte.

Aber ich hatte mich ja mit Sally Hayes für diese Matinee verabredet und mußte noch etwas Geld für die Karten und alles übrige behalten. Dieses verfluchte Geld. Es führt immer nur dazu, daß man deprimiert wird.

16

Nach dem Frühstück war es ungefähr zwölf Uhr, und da ich Sally erst um zwei treffen mußte, machte ich einen langen Spaziergang. Ich dachte immer noch an die beiden Nonnen und an diesen alten Korb, mit dem sie Geld sammeln gingen, wenn sie nicht unterrichteten. Ich versuchte mir meine Mutter oder meine Tante oder Sally Hayes' verrückte Mutter vorzustellen, wie sie vor einem Geschäft stehen und mit einem alten Korb Geld für arme Leute sammeln würden. Das konnte man sich kaum ausdenken. Mit meiner Mutter war es nicht so unmöglich, aber die beiden andern! Meine Tante tut ziemlich viel für Wohltätigkeitszwecke - für das Rote Kreuz und so -, aber sie ist sehr elegant und braucht Lippenstift und lauter solchen Mist. Ich könnte sie mir bei keinem wohltätigen Unternehmen vorstellen, wenn sie dabei schwarze Kleider anhaben müßte und sich nicht schminken dürfte. Und Sally Hayes' Mutter-Jesus Christus. Sie könnte nur unter der Bedingung mit einem Korb sammeln, daß alle ihre Füße küssen, die etwas beisteuern. Wenn die Leute einfach nur Geld in ihren Korb werfen würden und dann weitergingen, ohne mit ihr zu sprechen, ohne sie zu beachten, hätte sie spätestens nach einer Stunde genug davon. Sie würde sich langweilen. Sie würde ihren Korb abgeben und dann in irgendeinem feinen Restaurant zu Mittag essen. Das hatte mir an den Nonnen gefallen. Es war zum Beispiel ganz klar, daß sie nie in irgendein feines Restaurant gingen. Aber gerade das machte mich verdammt traurig, als ich daran dachte - daß sie nie zum Lunch in ein feines Restaurant gingen. Ich wußte wohl, daß es nicht wichtig war, aber es machte mich trotzdem traurig.

Ich schlug die Richtung zum Broadway ein, weil ich seit Jahren nicht mehr dort gewesen war.

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