Nacht an der Landspitze zuzubringen.
- Die Nacht und auch den nächsten Tag, Pieter, denn heute ist an ein Fortkommen nicht zu denken.
Wer weiß noch obendrein, ob sich dieser Sturm binnen vierundzwanzig Stunden schon gelegt haben wird?«
In den langen Stunden der Nacht konnte keiner der Brüder ein Auge zutun. Gespannt lauschend saßen sie da, während der Sturm an dem kleinen Fenster ihrer Zelle rüttelte, lauschend, ob nicht ein Hin- und Herlaufen von Aufsehern verriet, daß die auf ihrer Flucht eingeholten Irländer wieder in die Strafanstalt geschleppt würden.
Das Entweichen O'Briens und Macarthys an diesem Tage war nun, dank der Unterstützung durch deren Landsmann Farnham, folgendermaßen vor sich gegangen:
Die sechste Stunde war nahe herangekommen, die Rotten arbeiteten noch an dem Fällen der Bäume. Schon verlor sich der Wald etwas im Schattendunkel. Noch fünf oder sechs Minuten, und der Oberaufseher mußte das Zeichen geben, den Rückweg nach Port-Arthur wieder anzutreten.
In diesem Augenblick bemerkten die beiden Brüder, daß Farnham sich den Irländern näherte und ihnen ein Wort zuflüsterte. Darauf folgten ihm beide bis zum Rande der Lichtung, wo sie an einem Baume stehen blieben, der zum Niederlegen angezeichnet war.
Dem Oberaufseher fiel es nicht weiter auf, sie sich in dieser Richtung und in Begleitung eines Aufsehers entfernen zu sehen, und jene blieben an dieser Stelle bis zu der Zeit, wo die verschiedenen Abteilungen zum Rückmarsch nach Port-Arthur zusammentraten.
Wie gesagt, bemerkte dabei niemand, daß sich weder O'Brien noch Macarthy so wenig wie Farnham dem Zuge angeschlossen hatte. Erst bei der Verlesung im Hofe der Strafanstalt wurde ihr Fehlen ruchbar.
Bei der zunehmenden Dunkelheit hatten sich die drei Flüchtlinge ungesehen entfernen können. Um einer Patrouille aus dem Wege zu gehen, die sich eben nach dem nächsten
Wachtposten begab, hatten sie sich in einem Dickicht verbergen müssen. Dabei galt es auch die größte Vorsicht anzuwenden, daß sie nicht das Klirren der Ketten verriet, die O'Brien und Macarthy am Fuße und am Gürtel trugen.
Die Patrouille zog vorüber, alle drei erhoben sich; dann gelang es ihnen, zuweilen still stehend, um auf das leiseste Geräusch zu lauschen, den Rand des Steilufers zu erreichen, vor dem sich die Saint-Jamesspitze ausdehnte.
Jetzt lag schon die Finsternis über der ganzen Halbinsel Tasman, eine um so tiefere Finsternis, als schwere, vom Sturm einhergejagte Wolken den Himmel bedeckten.
Es war siebeneinhalb Uhr geworden, als die Flüchtlinge Halt machten, um die Bai zu überblicken.
»Kein Schiff zu sehen!« sagte O'Brien.
Wirklich schien die Bai gänzlich verlassen zu sein, denn ein Schiff hätte sich doch durch seine Positionslichter verraten, wenn man es bei der herrschenden Dunkelheit auch selbst nicht sehen konnte.
»Sagen Sie, Farnham, fragte Macarthy, sind wir hier auch wirklich an dem Steilufer hinter der Saint-Jamesspitze?
- Gewiß, versicherte Farnham, ich glaube aber kaum, daß ein Boot da draußen angelegt hat.«
Wie hätten sie das auch erwarten können, wo das Meer so wütend tobte, daß der durch den Sturm von den Wogenkämmen abgerissene Schaum in Fetzen über die Felsenwand flatterte.
Farnham und seine Gefährten wendeten sich jetzt nach links und kletterten nach dem Strande hinunter, um nach dem äußersten Landvorsprünge hinauszugehen.
Dieser bildete ein schmales, von Felsen umrahmtes Kap mit mehreren Wasserlachen und erstreckte sich zwei- bis dreihundert Fuß weit hinaus, wo er an einer Seite eine kleine, nach Norden offene Einbuchtung bildete. Hier hätte ein Boot ruhigeres Wasser gefunden, wenn es über die davor liegenden Klippen hinauskam, woran das Meer jetzt mit ungeheuerer Gewalt anbrandete.
Unter schwerem Kampfe gegen den stürmischen Wind gelangten die Flüchtlinge bis zur äußersten Spitze und suchten hier neben einem mächtigen Felsblocke einigen Schutz. Der Zettel Walters verlangte von ihnen, sich heute an der Saint-Jamesspitze einzufinden, und nun waren sie zur Stelle, freilich, wenigstens für diesen Abend, ohne die Hoffnung, abgeholt zu werden. Der Inhalt des Zettels berücksichtigte ja auch eine solche Verzögerung, sie erinnerten sich dessen Wort für Wort:
»Hätte das Wetter ihm (dem Schiffe) nicht gestattet, die Reede von Hobart- Town zu verlassen und in die Bai einzulaufen. dann warten, bis es vor jener Spitze sichtbar wird, und vom Abend bis zum Morgen scharf darauf Acht haben.«
Was blieb denn übrig. als diesen Anordnungen zu folgen?
»Wir wollen einen Unterschlupf suchen, riet O'Brien, eine Höhlung in der Felswand, worin wir die Nacht und den nächsten Tag verbringen können.
- Doch ohne uns zu weit von der Landspitze zu entfernen, bemerkte Macarthy.
- Kommt nur mit,« sagte Farnham.
In der Voraussicht auf schlechte Witterung hatte dieser bei seinem letzten Sonntagsausgange die wilde, öde Uferstrecke schon näher besichtigt, um an dem steil aufsteigenden Ufer nach einer Höhle zu suchen, worin sich die drei Flüchtlinge bis zum Eintreffen des Bootes verbergen könnten. Farnham hatte eine solche auch in einem Winkel dicht bei der äußersten Spitze gefunden und darin einigen Vorrat an Nahrungsmitteln niedergelegt, darunter Schiffszwieback und konserviertes Fleisch, die er in Port-Arthur eingekauft hatte, und ferner einen Krug, den er aus einem nahen Bache mit Süßwasser füllte.
Bei der jetzigen Finsternis und dem Geheul des Sturmes war es nicht gerade leicht, diese Höhle wiederzufinden, und es gelang den Flüchtlingen auch erst nach Überschreitung des ganzen Strandes, der nur wenig merkbar abfiel.
»Hier, hier ist es,« sagte endlich Farnham.
In einem Augenblicke waren alle drei in der höchstens fünf bis sechs Fuß tiefen Höhle verschwunden, wo sie vor dem Sturme Schutz fanden. Nur bei Hochflut und wenn gleichzeitig ein steifer Wind auf das Land zu wehte, mochte das Wasser bis an ihren Eingang vordringen können; die Lebensmittel, die für achtundvierzig Stunden bequem ausreichen mußten, fand Farnham an ihrem Platze.
Kaum waren seine beiden Gefährten und er in die Höhle geschlüpft, als ein dreifacher Kanonendonner zu ihnen herüberdröhnte, der selbst das Heulen des Sturmes übertraf.
Er kam von der Alarmkanone der Strafanstalt.
»Unsere Flucht ist entdeckt!« rief Macarthy.
- Ja, man weiß jetzt dort, daß wir entwichen sind, setzte O'Brien hinzu.
- Doch noch nicht wieder eingefangen, sagte Farnham.
- Und wir werden uns auch nicht fangen lassen!« erklärte O'Brien.
Zunächst war es nötig, daß die beiden Irländer sich ihrer Ketten entledigten, für den Fall, daß sie nochmals fliehen müßten. Farnham hatte sich dazu schon mit einer Feile versorgt, die nun dazu diente, ein Glied am Fuße zu lösen.
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