Mutter!«

Gleich einem Echo drang aus der Dunkelheit schmerzvolles Stohnen zu ihm zuruck, die Stimmen seiner Eltern! Er rannte vorwarts, wahrend ihm das Herz bis zum Hals schlug. Im Licht der Laterne, die er in der Hand hielt, bot sich ihm mit einemmal ein grauenhafter Anblick. Seine Eltern hingen sterbend an einem Pfahl, ihre Korper waren ubersat von den Spuren brutalster Folterung. Mit letzter Kraft hob sein Vater den Kopf und offenbarte ihm sein von Blut triefendes Antlitz. »Kehre um, mein Sohn!« rief er mit verloschender Stimme. Doch konnte er seinen Satz nicht mehr beenden, da Wulfila hinter einem Grabmal hervortrat und ihn durchbohrte. Wie aus dem Nichts sturzten auch die anderen Barbaren hervor und bauten sich um Aurelius auf. Ein Messer zerfetzte ihm das Fleisch an seinem Halsansatz, und ein Schlag in den Nacken lie? ihn in sich zusammensinken. Das letzte, was er noch sah, war Wulfilas Schwert, das sich in den Leib seiner Mutter senkte. Wie von weither vernahm er die Stimme des Barbaren, der seine Manner anfeuerte: »Das Tor ist offen, lauft, die Stadt gehort uns!« Dann trampelten seine Krieger los und quetschten sich durch die schmale Offnung, bis nur noch durchdringende Schreie aus der Stadt heraufgellten. Und in all den Klagen des Todes, dem Waffengeklirr und den heulenden Flammen versank Aquileia!

Er brullte mit aller Kraft, die noch in ihm war, er schrie vor Entsetzen und ha?erfullter Verzweiflung. Dann vernahm er wieder die Stimme, die ihn durch diese Holle geleitet hatte, und fand sich mit drohnendem Kopf und schwei?na? wieder, wie er auf dem gro?en Rundstein lag. Vor ihm stand Ambrosinus, der auf ihn einredete: »Mach weiter ... du mu?t weitermachen, bevor sich die Schneise deiner Vergangenheit wieder schlie?t. Erinnere dich, Aurelianus Ambrosius Ventidius, erinnere dich!«

Aurelius tat einen tiefen Atemzug und setzte sich auf, wahrend er die Hande an seine hammernden Schlafen hielt. Jedes einzelne Wort kostete ihn schreckliche Anstrengung. »Ich wei? nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich wieder zu mir kam. Sie mussen mich fur tot gehalten haben ...«

Sein Atem wurde ruhiger. Mit der Linken beruhrte er die Narbe zwischen Brust und Hals. »Die Klinge, die mir die Halsschlagader durchtrennen sollte, hatte mir nur die Haut unterhalb des Schlusselbeins zerschnitten ... doch ich bekam unertraglichen Kopfschmerz davon. Durchdringende, stechende Schmerzen, so da? ich mich an nichts mehr erinnern konnte ... Ziellos irrte ich umher, bis ich auf eine Kolonne Fluchtlinge stie?. Sie versuchten, einige Boote aufzutreiben, um in die Lagune zu entkommen. Mein Instinkt befahl mir, ihnen bei ihrem Unternehmen zu helfen. Doch dann stromten auch andere von uberall her, die ebenfalls einsteigen wollten, so da? sie die Boote beinahe zum Kentern brachten. So gut es ging, eilte ich ihnen zu Hilfe. Alte, Frauen und Kinder, alle versanken im Schlamm, in einem wusten Durcheinander aus Weinen und Hilfegeschrei. Und dazwischen die Klagen all derer, die ihre Kinder, Geschwister oder Eltern verloren hatten ...

Noch nicht gesattigt von dem Blutbad in Aquileia, ritten die Barbaren in gestrecktem Galopp aus den Stadttoren hinaus, direkt zum Strand, wo sie mit brennenden Fackeln nach den Uberlebenden ihres Massakers suchten, um sie ebenfalls niederzumetzeln. Auf dem letzten Schiff, das vollig uberladen war, hatte mir der Bootsfuhrer noch den letzten Platz aufgehoben. Es hatte bereits vom Ufer abgelegt, so da? er mir seine Hand hinstreckte und rief: >Los, beeil dich, steig ein!< Ich wollte schon springen, als ich den Hilferuf einer Frau vernahm. >Wartet!< rief sie. >Wartet, um Gottes willen!< Sie lief auf uns zu, wobei sie fast bis zum Gurtel im Wasser versank, und zog ein kleines Madchen hinter sich her, das bitterlich weinte. Um ihr beim Einsteigen zu helfen, nahm ich das Kind auf den Arm, damit die Mutter die Hand des Bootsfuhrers ergreifen konnte. Kaum hatte sie Platz genommen, reichte ich ihr die Kleine hinein. Vom Anblick des dunklen Wassers zu Tode erschrocken, wollte sie mich nicht loslassen, obwohl sie die andere Hand nach ihrer Mutter ausstreckte. Und so ... so ri? sie mir die Medaille ab, die ich trug ... die Medaille mit dem Adler ... das Ehrenzeichen meiner Abteilung und meiner zerstorten Stadt. Dieses Kind war Livia!«

Ambrosinus half ihm, sich wieder aufzurichten und stutzte ihn wie einen Kranken bei den ersten Schritten nach der Genesung. Langsam gingen die beiden Manner wieder zum Lager zuruck.

»Ich wurde gefangen«, fuhr Aurelius fort, »und mu?te als Sklave dienen, bis mich eines Tages der Angriff der Legio Nova Invicta befreite. Von da an war die Legion mein Zuhause, meine Familie und mein Leben.«

Ambrosinus fa?te ihn fest um die Schulter, als versuche er, ihm ein wenig Warme zu geben. »Du hast das Tor nur aus dem Grund geoffnet, um deine Eltern vor einem entsetzlichen Tod zu bewahren«, sagte er. »Du warst der Held von Aquileia, der die Stadt viele Monate lang verteidigt hat, niemand sonst. Und Wulfila war es, der deine Stadt und deine Eltern getotet hat.«

»Dafur wird er bezahlen«, sagte Aurelius, »bis zum letzten Blutstropfen.« Und wahrend er diese Worte sprach, erstarrten seine Augen zu blankem Eis.

Als sie vor dem Tor des Lagers angekommen waren, klopfte Ambrosinus mit seinem Stab dagegen. Ihnen gegenuber standen Livia und Romulus, der mit ihr zusammen Wache gehalten hatte.

»Hast du gefunden, was du suchtest?« fragte die junge Frau Aurelius.

»Ja«, antwortete er ihr. »Du hast mir die Wahrheit gesagt.«

»Die Liebe lugt niemals. Wu?test du das denn nicht?« Sie schlo? ihn in die Arme und ku?te ihn auf seinen Mund, die Stirn und auch die Augen, in denen noch immer das blanke Entsetzen stand.

Ambrosinus wandte sich an Romulus. »Komm, mein Junge«, sagte er zu ihm. »Komm mit mir. Du mu?t dich noch ein wenig ausruhen.«

Stille senkte sich uber das Lager. Jeder blieb fur sich allein in dieser ruhigen Fruhlingsnacht und wartete darauf, da? die Sonne ihnen ein neues Schicksal enthullte. Oder vielleicht auch zum letzten Mal auf sie herabschien.

»La? mich diese Nacht nicht allein«, sagte Livia. »Bitte.«

Aurelius druckte sie an sich und fuhrte sie zu seinem Zufluchtsort in der Kaserne.

Sie standen einander gegenuber, und das Mondlicht, das durch das baufallige Dach drang, beleuchtete Livias ebenma?iges Gesicht, sein blasser Schein liebkoste ihr Haupt und tauchte es in eine magische Aura aus flussigem Silber. Vorsichtig loste Aurelius die Bander an ihrem Gewand und lie? seine Augen uber ihre Nacktheit gleiten. Bezaubert von der Schonheit ihres Korpers, betrachtete er sie lange Zeit, bevor er es wagte, sie mit den Handen zu beruhren. Langsam und hingebungsvoll begann nun auch sie, ihn in der bebenden Erwartung einer Braut zu entkleiden. Mit leichten Fingern streichelte sie seinen Korper, der im Mondlicht wie Bronze wirkte, glitt uber die vielfach Versehrte Landschaft seines Fleisches, auf dem so viele Narben zu sehen waren, und seiner Muskeln, die sich von den vielen blutigen Kampfen in standiger Anspannung befanden. Dann lie? sie sich auf sein armseliges Strohlager nieder, auf dem seine raue Soldatendecke lag, und nahm ihn in sich auf. Wie ein wildes Fullen wolbte sie ihm ihre Lenden entgegen, vergrub ihre Nagel in seinen Schultern und suchte immer wieder nach seinem Mund. Bebend vor unerschopflichem Verlangen, liebten sie sich und versenkten den brennenden Flu? ihres Atems und die hei?e Verzuckung ihres Fleisches standig neu ineinander. Schlie?lich lie?en sie erschopft voneinander ab, und Aurelius legte sich neben sie. Der Duft ihres Haares umhullte ihn.

»Ich verliebte mich in jener Nacht in dich«, murmelte Livia, »als ich dich zum erstenmal sah. Allein und wehrlos standest du am Ufer der Lagune, wie reglos hast du dein Schicksal erwartet. Damals war ich erst neun Jahre alt ...«

XXXVII

Als sich Aurelius von seinem Lager erhob, war es noch dunkel. Er legte seine Kleider an und ging in den weiten, leeren Hof hinaus. Wie durch ein Wunder tauchten bei seinem Erscheinen auch seine Gefahrten aus dem Dunkel auf und gingen auf ihn zu, als hofften sie auf eine Entscheidung von ihm. Auch Ambrosinus trat zu ihnen. Keiner hatte ein Auge zugetan.

Aurelius sprach als erster. »Ich habe lange nachgedacht«, sagte er. »Ich bleibe.«

»Was?« erwiderte Vatrenus. »Bist du verruckt geworden?«

»Wenn er bleibt, bleibe ich auch«, antwortete Batiatus und befestigte Schwert und Doppelaxt an seinem Gurtel.

»Verstehe«, stimmte Demetrios zu. »Wir bleiben also und decken die Flucht von Romulus und Ambrosinus. Das ist gut so.«

»Das ist gut so«, wiederholte Orosius. »Wenigstens kann sich Livia retten.«

In diesem Augenblick erschien die junge Frau, angetan mit ihrer engen Amazonenkleidung; sie hatte den Bogen umgehangt und hielt Pfeile und Kocher in der Hand: »Aurelius ist der Mann, den ich liebe. So Gott will, werde ich mit ihm leben. Doch habe ich nicht die Absicht, ihn zu uberleben. Das ist mein letztes Wort.«

Nun trat auch Romulus in den Kreis der Gefahrten. »Ihr glaubt doch nicht, da? ich mich rette, wenn ihr alle bleibt«, sagte er mit einer Stimme, die fest und entschlossen klang wie die eines Mannes. Sie war sogar ebenso

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