Jan grubelte einen Augenblick hieruber, wu?te aber, da? es nutzlos war, weitere derartige Fragen zu stellen. Er mu?te das Thema wechseln und hoffen, spater Anhaltspunkte zu finden. „Aber da ist noch etwas anderes, was Sie nie erklart haben“, fuhr er fort. „Als Ihre Rasse in ferner Vergangenheit das erstemal auf die Erde kam — was ist damals schiefgegangen? Warum sind Sie fur uns das Symbol des Bosen und des Schreckens geworden?“

Raschaverak lachelte. Er konnte das nicht so vollendet wie Karellen, aber es war eine gute Nachahmung. „Das hat niemand je erraten, und Sie werden jetzt begreifen, warum wir es Ihnen nie sagen konnten. Nur ein einziges Ereignis konnte einen solchen Eindruck auf die Menschheit gemacht haben. Und dieses Ereignis lag nicht am Morgen der Geschichte, sondern an ihrem Ende.“

„Was meinen Sie?“ fragte Jan.

„Als unsere Schiffe vor anderthalb Jahrhunderten an Ihrem Himmel erschienen, war es die erste Begegnung unserer beiden Rassen, obwohl wir Sie naturlich aus der Entfernung studiert hatten. Und doch furchteten und erkannten Sie uns, wie wir es vorausgesehen hatten. Es war nicht eigentlich eine Erinnerung. Sie haben schon Beweise dafur bekommen, da? Zeit etwas Verwickelteres ist, als Ihre Wissenschaft es sich je vorgestellt hat. Denn diese Erinnerung betraf nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft, also jene letzten Jahre, als Ihre Rasse wu?te, da? alles beendet war. Wir taten, was wir konnten, aber es war kein leichtes Ende. Und weil wir dabei waren, wurden wir mit dem Tode Ihrer Rasse in Verbindung gebracht. Ja, auch wenn es zehntausend Jahre spater geschah! Es war, als ob ein verzerrtes Echo den geschlossenen Kreis der Zeit zuruckgelaufen ware, von der Zukunft in die Vergangenheit. Nennen Sie es nicht eine Erinnerung, sondern eine Vorahnung.“

Dieser Gedanke war kaum zu fassen, und einen Augenblick schlug sich Jan schweigend mit ihm herum. Und doch hatte er vorbereitet sein mussen, denn er hatte bereits Beweise genug bekommen, da? Ursache und Wirkung ihre normale Folge umkehren konnten.

Es mu?te so etwas wie ein Rassengedachtnis geben, und dieses Gedachtnis war irgendwie unabhangig von der Zeit. Fur dieses Gedachtnis waren Zukunft und Vergangenheit ein Ganzes. Daher hatten vor Tausenden von Jahren die Menschen schon ein verzerrtes Bild der Overlords in einem Nebel von Angst und Schrecken gesehen.

„Jetzt verstehe ich“, sagte der letzte Mensch.

Der letzte Mensch! Jan fand es sehr schwer, sich als den letzten Menschen zu sehen. Als er in den Weltraum aufgebrochen war, hatte er die Moglichkeit einer ewigen Verbannung von der menschlichen Rasse in Kauf genommen, und die Einsamkeit hatte ihn noch nicht uberwaltigt. Im Lauf der Jahre wurde ihn vielleicht die Sehnsucht, ein anderes menschliches Wesen zu sehen, uberkommen, aber im Augenblick hinderte ihn die Gesellschaft der Overlords, sich vollig einsam zu fuhlen.

Noch vor zehn Jahren hatte es Menschen auf der Erde gegeben, aber sie waren entartete Uberlebende gewesen, und Jan hatte nichts verloren, da? er ihnen nicht begegnete. Aus Grunden, die die Overlords nicht erklaren konnten, die aber Jan auf psychologischem Gebiet vermutete, waren keine Kinder geboren worden, die die fortgegangenen ersetzt hatten. Der Homo sapiens war ausgestorben.

Vielleicht lag in einer der noch erhaltenen Stadte das Manuskript irgendeines spaten Langarmaffen, eines Gibbon, der uber die letzten Tage der menschlichen Rasse berichtete. Wenn es sich so verhielt, wu?te Jan nicht einmal, ob er sich die Muhe machen wurde, es zu lesen. Raschaverak hatte ihm bereits alles erzahlt, was er zu wissen wunschte.

Die Menschen, die sich nicht selbst vernichteten, hatten Vergessen in immer fieberhafterer Tatigkeit, in wildem und selbstmorderischem Sport gesucht, der oft von kleineren Kriegen nicht zu unterscheiden war. Da die Bevolkerung rasch abnahm, hatten sich die alternden Uberlebenden zusammengefunden, eine geschlagene Armee, die ihre Reihen fester schlo?, als sie ihren letzten Ruckzug antrat.

Dieser Schlu?akt, ehe der Vorhang sich fur immer senkte, mu?te von aufflammendem Heldentum und Aufopferung erhellt und von Grausamkeit und Selbstsucht verdunkelt worden sein. Ob er in Verzweiflung oder Ergebung geendet hatte, wurde Jan nie erfahren.

Es gab viele Dinge, die seinen Sinn beschaftigten. Der Stutzpunkt der Overlords befand sich etwa einen Kilometer von einer verlassenen Villa, und Jan brachte Monate damit zu, diese mit Gegenstanden auszustatten, die er aus der etwa drei?ig Kilometer entfernten nachsten Stadt holte. Er war mit Raschaverak, dessen Freundschaft er nicht fur ganz selbstlos hielt, dorthin geflogen. Dieser Psychologe studierte noch immer das letzte Exemplar des Homo sapiens.

Die Stadt mu?te vor dem Ende geraumt worden sein, denn die Hauser und viele von den offentlichen Einrichtungen waren noch in gutem Zustand. Es hatte wenig Muhe gemacht, die Generatoren wieder in Betrieb zu setzen, so da? die breiten Stra?en noch einmal in der Illusion des Lebens gegluht hatten. Jan spielte mit diesem Gedanken, dann lie? er ihn als zu krankhaft fallen. Das einzige, was er nicht tun wollte, war, uber die Vergangenheit zu bruten. Hier war alles, was er brauchte, um sich fur den Rest seines Lebens zu erhalten, aber das gro?te Verlangen hatte er nach einem elektronischen Klavier und gewissen Bach-Ubertragungen. Er hatte fur Musik nie so viel Zeit gehabt, wie er gewunscht hatte, und jetzt wollte er sich dafur entschadigen. Wenn er nicht selbst spielte, lie? er Tonbander von den gro?en Symphonien und Konzerten ablaufen, so da? die Villa nie still war. Musik war sein Talisman gegen die Einsamkeit geworden, die ihn eines Tages sicher uberwaltigen mu?te.

Oft pflegte er lange Wanderungen uber die Hugel zu machen, wo er an alles dachte, was in den wenigen Monaten, seit er die Erde zuletzt gesehen hatte, geschehen war. Er hatte, als er sich von Sullivan vor achtzig irdischen Jahren verabschiedete, nie gedacht, da? bereits die letzte Generation der Menschheit geboren war.

Was fur ein junger Narr war er doch gewesen! Und dennoch war er sich nicht sicher, da? er seine Haltung bereute: Ware er auf der Erde geblieben, so wurde er die letzten Jahre miterlebt haben, uber die jetzt die Zeit einen Schleier gezogen hatte. Statt dessen war er mit einem Hechtsprung an ihnen vorbei in die Zukunft hineingesprungen und hatte auf seine Fragen Antworten bekommen, die kein anderer Mensch je erfahren wurde. Seine Wi?begier war fast befriedigt, doch bisweilen fragte er sich, warum die Overlords noch warteten, und was geschehen wurde, wenn ihre Geduld endlich belohnt wurde.

Aber den gro?ten Teil der Zeit sa? er, in einer stillzufriedenen Ergebenheit, die fur gewohnlich einen Menschen erst am Ende eines langen und geschaftigen Lebens uberkommt, vor den Tasten und erfullte die Luft mit seinem geliebten Bach. Vielleicht tauschte er sich selbst, vielleicht war dies eine gnadige List seines Geistes, aber jetzt kam es Jan vor, als habe er sich immer das zu tun gewunscht. Sein geheimer Ehrgeiz hatte sich endlich an das volle Licht des Bewu?tseins gewagt.

Jan war immer ein guter Klavierspieler gewesen; jetzt war er der beste der Welt.

9

Raschaverak brachte Jan die Nachricht, doch Jan hatte sie bereits erwartet. In den fruhen Morgenstunden hatte ein Alptraum ihn geweckt, und er hatte nicht wieder einschlafen konnen. Er vermochte sich nicht auf den Traum zu besinnen, was sehr seltsam war, denn er glaubte, da? alle Traume sich zuruckrufen lie?en, wenn man es nur unmittelbar nach dem Aufwachen energisch genug versuchte. Er konnte sich nur daran erinnern, da? er wieder ein kleiner Junge gewesen war und auf einer weiten, leeren Ebene einer machtigen Stimme gelauscht hatte, die in einer unbekannten Sprache rief.

Der Traum hatte ihn beunruhigt. Er fragte sich, ob es der erste Angriff der Einsamkeit auf seinen Geist sei. Ruhelos verlie? er die Villa und ging zu dem vernachlassigten Rasenplatz.

Der Vollmond ubergo? die Landschaft mit einem so hellen goldenen Licht, da? er alles deutlich sehen konnte. Der riesige, glanzende Zylinder von Karellens Schiff lag hinter den Gebauden, die den Stutzpunkt der Overlords bildeten, ragte hoch uber ihnen auf und lie? ihre Proportionen als Menschenwerk erscheinen. Jan sah das Schiff an und versuchte sich die Gefuhle zuruckzurufen, die es einst in ihm erweckt hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da es ein unerreichbares Ziel gewesen war, ein Symbol alles dessen, was er nie wirklich zu erreichen erwartet hatte. Und jetzt bedeutete es nichts.

Wie ruhig und still es war! Die Overlords naturlich wurden ebenso tatig sein wie immer, aber im Augenblick war nichts von ihnen zu sehen. Er hatte allein auf der Erde sein konnen, wie er es in einem sehr wirklichen Sinne ja auch war. Er blickte zum Mond empor, auf der Suche nach irgendeinem vertrauten Anblick, an dem seine

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