mu?te wohl dem Gaumen dieser Auguren schmeicheln, denn es wurde mehrmals, zwischen zwei Bissen uberbackener Kaseschnitte, wiederholt. Und der Ton insinuierte, da? nur ein Kulturbanause nicht wissen konne, da? ich nun eher zur Welt des Gemuses gehorte als zur menschlichen Gemeinschaft. Wir lebten in einer Friedenszeit. Die Uberbringer falscher Nachrichten wurden nicht mehr erschossen. Wenn ich beweisen wollte, da? mein intellektuelles Potential weiterhin dem einer Schwarzwurzel uberlegen war, konnte ich nur auf mich selbst bauen.

So ist eine kollektive Korrespondenz entstanden, die ich Monat fur Monat fortsetze und dank derer ich immer mit allen, die ich liebe, in Verbindung bin. Mein Stolz hat Fruchte getragen. Von einigen Unerbittlichen abgesehen, die hartnackig schweigen, haben alle begriffen, da? man mich in meiner Taucherglocke erreichen kann, auch wenn sie mich manchmal an die Rander unerforschter Welten davontragt.

Ich bekomme bemerkenswerte Briefe. Sie werden geoffnet, entfaltet und vor meinen Augen ausgebreitet - ein Ritual, das mit der Zeit entstanden ist und dem Eintreffen der Post etwas von einer stummen, heiligen Zeremonie verleiht. Ich lese jeden Brief gewissenhaft selbst. Manchen fehlt es nicht an Ernst. Sie sprechen vom Sinn des Lebens, von der Uberlegenheit der Seele, vom Mysterium jeder einzelnen Existenz, und in einer seltsamen Umkehrung behandeln die, mit denen ich die oberflachlichsten Beziehungen hatte, diese Grundfragen am ausfuhrlichsten. Ihre Unbekummertheit verbarg Tiefen. War ich blind und taub, oder bedarf es unbedingt der Beleuchtung durch ein Ungluck, um einen Menschen in seinem wahren Licht zu zeigen?

Andere Briefe schildern ganz schlicht die kleinen Dinge, die das Vergehen der Zeit anzeigen. Rosen, die in der Dammerung gepfluckt wurden, das Faulenzen an einem verregneten Sonntag, ein Kind, das vor dem Einschlafen weint. Direkt aus der Realitat gegriffen, bewegen mich diese Lebenssplitter, dieses Aufwallen von Gluck mehr als alles andere. Ob es drei Zeilen oder acht Seiten sind, ob sie aus dem fernen Morgenland oder aus Montmorency kommen - ich hebe all diese Briefe wie Schatze auf. Eines Tages mochte ich sie gern aneinanderkleben, um ein kilometerlanges Band daraus zu machen, das wie eine Fahne zum Ruhm der Freundschaft flattert.

Das wird die Geier fernhalten.

Die Promenade

Bleierne Hitze. Ich wurde trotzdem gern ausfahren. Es ist Wochen, vielleicht Monate her, da? ich aus dem Krankenhausbezirk hinausgekommen bin, um meine rituelle Promenade auf der Esplanade am Meer zu machen. Beim letzten Mal war es noch Winter. Eisige Luftwirbel lie?en Staubwolken auffliegen, und die wenigen Schaulustigen gingen, in dicke Hullen eingemummelt, schrag gegen den Wind. Heute habe ich Lust, Berck im Sommergewand zu sehen, seinen Strand, den ich menschenleer kennengelernt habe und von dem man mir sagt, er sei von der sorglosen Julimenge uberfullt. Um vom Haus Sorrel aus auf die Stra?e zu gelangen, mu? ich drei Parkplatze uberqueren, deren rauher, unebener Belag eine schwere Prufung fur den Hintern ist. Ich hatte den Parcours, mit dem ich mir den Ausflug erkampfen mu?, vergessen, seine Kanaldeckel, seine Schlaglocher und seine auf dem Burgersteig geparkten Autos.

Das Meer! Sonnenschirme, Surfbretter und ein Kordon von Badenden vervollstandigen die Postkarte. Es ist ein Ferienmeer, weich und gutartig. Nichts von dem stahlern schimmernden, grenzenlosen Baum, den man von den Terrassen des Krankenhauses aus betrachtet. Dabei sind es die gleichen Wellentaler und -berge, ist es der gleiche dunstige Horizont.

Wir fahren in einem Kommen und Gehen von Eistuten und knallroten Schenkeln uber die Esplanade. Ich stelle mir vor, eine Kugel Vanilleeis von einer sonnengeroteten jungen Haut abzulecken. Niemand beachtet mich wirklich. In Berck ist ein Rollstuhl etwas so Alltagliches wie in Monte Carlo ein Ferrari, und es begegnen einem uberall so arme Teufel wie ich, gliederlahm und sabbernd. Heute nachmittag begleiten mich Claude und Brice. Sie kenne ich seit vierzehn Tagen, ihn seit funfundzwanzig Jahren, und es beruhrt mich seltsam, zu horen, wie mein alter Komplize der jungen Frau, die jeden Tag kommt, um sich dieses Buch diktieren zu lassen, von mir erzahlt. Von meinem aufbrausenden Charakter, meiner Leidenschaft fur Bucher, meiner unma?igen Vorliebe fur gutes Essen, meinem roten Cabrio, alles wird erwahnt. Wie ein Erzahler, der die Legenden einer versunkenen Welt ausgrabt.

»So habe ich Sie nicht gesehen«, sagt Claude. Meine Welt ist von nun an geteilt zwischen denen, die mich vorher gekannt haben, und den anderen. Was fur ein Bild mogen sie sich von meiner fruheren Personlichkeit machen? Ich habe nicht einmal ein Foto in meinem Zimmer, das ich ihnen zeigen konnte.

Wir bleiben oben an einer breiten Treppe stehen, die zur Strandbar und einer schonen Anordnung von pastellfarbenen Badekabinen fuhrt. Die Treppe erinnert mich an den gro?en Eingang der Metrostation Porte- d'Auteuil, die ich als Kind benutzte, wenn ich mit chlorumflorten Augen aus dem Schwimmbad kam. Das Molitor- Bad ist vor ein paar Jahren abgerissen worden. Und Treppen sind fur mich nur noch Sackgassen.

»Willst du zuruck?« fragt Brice. Ich protestiere energisch, indem ich den Kopf nach allen Seiten schuttele. Umkehren kommt nicht in Frage, bevor ich das eigentliche Ziel dieser Expedition erreicht habe. Wir fahren an einem altmodischen Karussell mit Holzpferden voruber, dessen Drehorgelmusik meine Ohren zerrei?t. Wir begegnen Fangio, einem Unikum aus dem Krankenhaus, wo er unter diesem Beinamen bekannt ist. Steif wie ein Stock, kann Fangio nicht sitzen. Dazu verurteilt, entweder zu stehen oder zu liegen, bewegt er sich bauchlings auf einem Wagelchen, das er selbst mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Bewegung setzt. Aber wer ist eigentlich dieser sportlich wirkende gro?e Schwarze, der ihm mit dem lauten Ruf »Achtung, hier kommt Fangio!« den Weg frei macht? Er verschwindet aus meinem Blickfeld. Endlich erreichen wir den au?ersten Punkt unseres Rundgangs, ganz am Ende der Esplanade. Ich habe diesen weiten Weg nicht etwa gemacht, um ein noch nie gesehenes Panorama zu entdecken, sondern um mich an den Ausdunstungen zu laben, die einer bescheidenen Baracke am Ende des Strands entweichen. Ich werde vor dem Wind abgestellt und spure meine Nasenflugel vor Wonne beben, als sie einen vulgaren, betaubenden und fur gewohnliche Sterbliche absolut unertraglichen Duft erschnuppern. »Oje!« sagt eine Stimme hinter mir. »Das stinkt ja nach angebranntem Fett.« Ich dagegen kann gar nicht genug bekommen von dem Frittengeruch.

Zwanzig zu eins

Endlich! Der Name des Pferdes ist mir wieder eingefallen.

Es hie? Mithra-Grandchamp.

Vincent mu? jetzt gerade durch Abbeville fahren. Wenn man mit dem Auto aus Paris kommt, ist das der Moment, wo die Fahrt einem allmahlich lang erscheint. Auf die leere, superschnelle Autobahn folgt eine zweispurige Nationalstra?e, uber die sich eine ununterbrochene Schlange von PKWs und Lastwagen walzt.

Damals, vor mehr als zehn Jahren, als die folgende Geschichte passierte, hatten Vincent, ich und einige andere die unerhorte Chance, bei einer heute nicht mehr existierenden Morgenzeitung das Heft in der Hand zu halten. Der Eigentumer, ein Industrieller mit leidenschaftlicher Liebe fur die Presse, war so tollkuhn gewesen, sein Baby dem jungsten Team von Paris anzuvertrauen, wahrend von seiten der Politik und der Banken schon das finstere Komplott geschmiedet wurde, mit dem ihm sein sechs Jahre zuvor gegrundetes Blatt abgenommen werden sollte. Ohne da? wir es wu?ten, spielte er mit uns seinen letzten Trumpf aus, und wir setzten uns tausendprozentig ein.

Jetzt fahrt Vincent uber die Kreuzungen, wo man die Stra?en nach Rouen und Le Crotoy links liegenlassen und die schmale Stra?e einschlagen mu?, die durch eine Reihe kleiner Ortschaften nach Berck fuhrt. Diese Kreisverkehranlagen bringen diejenigen, die die Strecke nicht kennen, vom Wege ab. Aber Vincent verliert den Norden nicht aus den Augen, da er mich schon mehrmals besucht hat. Und zu einem guten Orientierungssinn kommt bei ihm, zum au?ersten getrieben, der Sinn fur Treue hinzu.

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