Wir waren also standig im Einsatz. Morgens fruh, spatabends, am Wochenende und manchmal sogar in der Nacht erledigten wir mit unbekummerter Frohlichkeit die Arbeit fur zwolf.

Vincent hatte zehn gro?e Ideen pro Woche: drei ausgezeichnete, funf gute und zwei katastrophale. Meine Rolle bestand ein wenig darin, ihn zum Aussortieren zu zwingen, denn mit seinem ungeduldigen Charakter hatte er am liebsten alles sofort verwirklicht gesehen, was ihm so durch den Kopf scho?.

Ich hore ihn bis hier auf sein Lenkrad trommeln und auf das Stra?enbauamt fluchen. In zwei Jahren wird die Autobahn bis Berck fuhren, aber vorlaufig ist es nur eine Baustelle, an der man, hinter Wohnwagen eingezwangt, entlangfahrt.

Wir trennten uns nie. Wir lebten, a?en, tranken, schliefen, traumten nur von der Zeitung und fur die Zeitung. Wer kam auf die Idee mit dem Pferderennen? Es war ein schoner Wintersonntag, sonnig, kalt und trocken, und in Vincennes fanden Rennen statt. Weder er noch ich waren Pferdekenner, aber der Pferdesportreporter schatzte uns genug, um uns im Restaurant der Rennbahn zu bewirten und uns den Sesam-offne-dich zu liefern, der das Tor zur geheimnisvollen Welt der Rennen aufsperrt: einen Tip. Wenn man ihn horte, war er wasserdicht, garantiert sicher, und da Mithra-Grandchamp mit der Quote zwanzig zu eins lief, versprach es ganz schon was einzubringen, viel mehr als eine mundelsichere Anlage.

Jetzt hat Vincent den Ortseingang von Berck erreicht und fragt sich wie alle einen Moment lang beklommen, wieso er hierhergekommen ist.

Wir hatten ein amusantes Mittagessen im gro?en Speisesaal eingenommen, der den Blick auf die ganze Rennbahn eroffnet und in dem herausgeputzte Gruppen von Gangstern, Zuhaltern, mehrfach Vorbestraften und anderen bosen Buben verkehren, die sich in der Welt des Turfs bewegen. Gesattigt und zufrieden saugten wir gierig an langen Zigarren und warteten in der aufgeheizten Atmosphare, in der Strafregister wie Orchideen erbluhen.

Am Meer angekommen, biegt Vincent ab und fahrt die gro?e Esplanade entlang, ohne hinter der Menge der Sommergaste die ode, eisige Landschaft des winterlichen Berck wiederzuerkennen.

Damals in Vincennes haben wir so lange getrodelt, da? das Rennen schlie?lich ohne uns losging. Der Wettschalter wurde vor unserer Nase geschlossen, bevor ich Zeit hatte, das Bundel Geldscheine aus der Tasche zu ziehen, das die Redaktion mir anvertraut hatte. Trotz strikter Anweisungen zur Diskretion hatte Mithra- Grandchamps Name die Runde gemacht und das Gemunkel den unbekannten Au?enseiter in ein Wundertier verwandelt, auf das alle gesetzt hatten. Jetzt konnte man sich nur noch das Rennen ansehen und hoffen… Am Eingang der letzten Kurve hatte Mithra-Grandchamp begonnen, sich vom Feld zu losen. Am Ausgang zahlte er funf Langen Vorsprung, und wir sahen ihn wie im Traum die Ziellinie uberqueren, seinen nachsten Verfolger fast vierzig Meter hinter sich. In der Redaktion haben sie bestimmt vor dem Fernsehapparat gesessen und gejubelt.

Vincents Auto schlangelt sich auf den Krankenhausparkplatz. Die Sonne strahlt. An diesem Punkt brauchen die Besucher Schneid, um mit zugeschnurter Kehle die letzten Meter zu uberwinden, die mich von der Welt trennen: die automatisch aufgehenden Glasturen, den Aufzug Nr. 7 und den schrecklichen kleinen Flur, der zum Zimmer 119 fuhrt. Durch die offenstehenden Turen sieht man nur Liegende und ans Bett Gefesselte, die das Schicksal an die au?ersten Grenzen des Lebens zuruckgeworfen hat. Bei diesem Anblick bleibt manchen die Luft weg. Sie mussen erst einmal ein bi?chen herumlaufen, ehe sie mit festerer Stimme und weniger feuchten Augen bei mir ankommen. Wenn sie sich endlich getrauen, konnte man meinen, es seien Taucher mit Atemnot.

Ich wei? sogar von welchen, die hier vor meiner Tur die Krafte verlie?en: sie haben kehrtgemacht und sind nach Paris zuruckgefahren.

Vincent klopft und tritt schweigend ein. Durch die Blicke der anderen habe ich mich so daran gewohnt, da? ich die kleinen Funken des Entsetzens nicht mehr wahrnehme, die in seinen Augen aufscheinen. Oder mir schaudert jedenfalls nicht mehr so davor. Mit meinen von der Lahmung atrophierten Gesichtszugen versuche ich etwas aufzusetzen, was ein Begru?ungslacheln sein soll. Diese Grimasse erwidert Vincent mit einem Ku? auf die Stirn. Sein roter Haarschopf, seine in viele Falten gelegte Miene, seine untersetzte Gestalt, die von einem Fu? auf den anderen tanzelt, verleihen ihm das komische Aussehen eines walisischen Gewerkschaftlers, der einen Kumpel, das Opfer eines Schlagwetters, besuchen kommt. Mit halb gesenkter Deckung kommt Vincent wie ein Boxer der Klasse Leichtschwergewicht naher. Am Tag von Mithra-Grandchamp, nach dem verhangnisvollen Einlauf ins Ziel, hat er nur folgendes von sich gegeben: »Arschlocher. Wir sind richtige Arschlocher. In der Redaktion nehmen sie uns mit der Brechstangeauseinander.« Das war damals sein Lieblingsausdruck.

Um ehrlich zu sein, ich hatte Mithra-Grandchamp vergessen.

Diese Geschichte ist mir gerade erst wieder eingefallen und hinterla?t eine doppelt schmerzliche Spur. Das Heimweh nach einer entschwundenen Vergangenheit und vor allem die Reue uber verpa?te Gelegenheiten. Mithra-Grandchamp, das sind die Frauen, die man nicht geliebt hat, die Chancen, die man nicht ergriffen hat, die Glucksmomente, die man voruberziehen lie?.

Heute kommt es mir so vor, als werde mein ganzes Leben nur eine Verkettung solcher kleiner Fehlschlage gewesen sein. Ein Rennen, dessen Ausgang man kennt, aber bei dem man unfahig ist, den Gewinn einzustreichen. Apropos Gewinn, wir haben uns aus der Affare gezogen, indem wir allen ihre Einsatze zuruckgegeben haben.

Die Entenjagd

Uber die mannigfachen Unannehmlichkeiten hinaus, die das Locked-in-Syndrom mit sich bringt, leide ich an einer schweren Storung meiner Lauscher. Das rechte Ohr ist vollig verstopft, und links verstarkt und verzerrt meine Eustachische Rohre alle Tone jenseits von zwei Meter funfzig. Wenn ein Flugzeug uber den Strand fliegt und das Werbeband des hiesigen Vergnugungsparks hinter sich herzieht, habe ich ein Gefuhl, als hatte man mir eine Kaffeemuhle auf das Trommelfell gepfropft. Aber das ist nur ein vorubergehendes Getose. Viel atzender ist der dauernde Krach aus dem Flur, wenn jemand trotz meiner Bemuhungen, alle fur das Problem meiner Ohren zu sensibilisieren, die Tur nicht zugemacht hat.

Absatze klappern auf dem Linoleum, Liegen sto?en gegeneinander, Gesprache uberschneiden sich, das Personal kommuniziert lautstark wie Borsenmakler an einem Tag mit heftigen Kursbewegungen, Radios werden eingeschaltet, denen niemand zuhort, und alles ubertonend, vermittelt eine Bohnermaschine einen akustischen Vorgeschmack auf die Holle. Dann gibt es noch die schrecklichen Patienten. Ich kenne welche, deren einziges Vergnugen darin besteht, immer wieder dieselbe Kassette zu horen. Ich hatte einen sehr jungen Zimmernachbarn, dem man eine Pluschente mit einem raffinierten Alarmsystem geschenkt hatte. Sobald jemand das Zimmer betrat, das hei?t achtzigmal am Tag, gab seine Ente eine schrille, durchdringende Melodie von sich. Zum Gluck ist der kleine Patient entlassen worden, bevor ich meinen Plan zur Entenvernichtung verwirklichen konnte. Ich habe ihn trotzdem noch in petto, man wei? ja nie, welches Unheil untrostliche Familien noch hervorrufen konnen.

Die Siegespalme fur extravagante Nachbarschaft kommt jedoch einer Kranken zu, deren Sinne durch das Koma ganz durcheinandergeraten waren. Sie bi? die Krankenschwester, packte die Pfleger beim mannlichen Teil ihrer Anatomie und konnte kein Glas Wasser verlangen, ohne wie am Spie? zu schreien. Anfangs loste dieser falsche Alarm jedesmal ein regelrechtes Kampfgetose aus, und als alle mit den Kraften am Ende waren, ging man dazu uber, sie zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit sich die Kehle aus dem Hals schreien zu lassen. Diese Einlagen gaben der neurologischen Station einen recht aufregenden Anstrich von »Kuckucksnest«, und als man unsere Freundin verlegte, um sie anderswo ihr »Hilfe, ich werde ermordet!« brullen zu lassen, hat es mir irgendwie leid getan.

Erlost von solcherlei Radau, in der wiedereingetretenen Stille, kann ich die Schmetterlinge horen, die in meinem Kopf umherfliegen. Dazu ist viel Aufmerksamkeit und sogar Sammlung notig, denn ihre Flugelschlage sind fast unhorbar.

Etwas lautes Atmen genugt, um sie zu ubertonen. Es ist ubrigens erstaunlich - mein Horvermogen bessert

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×