sich nicht, und doch hore ich sie immer deutlicher. Ich mu? ein Ohr fur Schmetterlinge haben.

Sonntag

Durch das Fenster sehe ich die ockerbraunen Klinkerfassaden, die im Licht der ersten Sonnenstrahlen heller werden. Der Stein nimmt ganz genau die rosa Farbung der griechischen Grammatik von M. Rat an, eine Erinnerung an die vierte Klasse. Ich war bei weitem kein brillanter Hellenist, aber ich mag diesen warmen, tiefen Farbton, der mir noch immer ein Universum des Wissens eroffnet, in dem man auf Tuchfuhlung mit Alkibiades' Hund und den Helden der Thermopylen kommt. Farbenhandler nennen ihn »altrosa«. Er hat nichts mit dem Heftpflasterrosa der Krankenhausflure gemein. Noch weniger mit dem Mauve, in dem in meinem Zimmer Sockel, Tur- und Fensterleibungen gestrichen sind und das aussieht wie die Verpackung eines billigen Parfums.

Heute ist Sonntag. Ein Sonntag zum Furchten, an dem sich unglucklicherweise kein Besucher angemeldet hat und kein wie immer geartetes Ereignis die zahe Abfolge der Stunden unterbrechen wird. Keine Heilgymnastik, keine Logopadin, kein Psychologe. Eine Durchquerung der Wuste mit einer noch knapper als sonst ausfallenden Morgentoilette als einziger Oase. An diesen Tagen versetzen die Nachwirkungen der Samstagsgelage, verbunden mit der Sehnsucht nach Familienpicknicks, Tontaubenschie?en oder Krabbenfangen, worum sie durch ihren Dienstplan gebracht werden, das Pflegepersonal in eine mechanische Stumpfheit, und die Reinigungsprozedur hat mehr mit Kadaververwertung zu tun als mit Thalassotherapie. Eine dreifache Dosis des besten Eau de Cologne genugt nicht, um uber die Tatsache hinwegzutauschen: man stinkt.

Heute ist Sonntag. Wenn ich mir den Fernseher einschalten lasse, darf ich mich nicht vertun. Ich mu? hochst strategisch vorgehen. Es konnen namlich drei oder vier Stunden vergehen, bevor die gute Seele kommt, die ein anderes Programm einschalten kann, und manchmal ist es besser, auf eine interessante Sendung zu verzichten, wenn eine tranenreiche Serie, ein abgeschmacktes Spiel und eine rei?erische Talk-Show folgen. Der Beifall auf Teufel komm raus tut mir in den Ohren weh. Ich ziehe den stillen Genu? von Dokumentarfilmen uber Kunst, Geschichte oder Tiere vor. Ich sehe sie mir ohne Kommentar an, so wie man ein Holzfeuer betrachtet.

Es ist Sonntag. Die Glocke schlagt feierlich die Stunden. Der kleine Kalender von der offentlichen Fursorge an der Wand, von dem Tag fur Tag ein Blatt abgerissen wird, zeigt schon August. Was ist das fur ein Paradox: die Zeit steht still - und rast zugleich in wildem Tempo? In meiner eingeengten Welt dehnen sich die Stunden, und die Monate vergehen wie der Blitz. Ich kann es nicht fassen, da? schon August ist. Freunde, Frauen, Kinder sind vom Ferienwind verstreut. In der Phantasie schleiche ich mich in die Biwaks, in denen sie ihr Sommerquartier aufgeschlagen haben, auch wenn mir diese Rundreise ein wenig das Herz zerrei?t. In der Bretagne kommt ein Schwarm Kinder auf Fahrradern vom Markt. Alle Gesichter strahlen vor Lachen. Einige dieser Kinder haben das Alter der gro?en Sorgen schon lange erreicht, aber auf diesen von Rhododendren gesaumten Wegen kann jedes seine verlorene Unschuld wiederfinden. Heute nachmittag werden sie die Insel im Boot umrunden. Der kleine Motor wird gegen die Stromungen ankampfen. Jemand wird sich mit geschlossenen Augen im Bug ausstrecken und den Arm im kalten Wasser treiben lassen. In der Provence mu? man sich im Innern der Hauser verkriechen, auf die die Sonne niederbrennt. Man fullt seine Aquarellblocks. Ein Katzchen mit gebrochener Pfote sucht in einem Pfarrgarten nach schattigen Ecken, und weiter sudlich, in der Camargue, uberquert eine Wolke junger Stiere die Weite eines Sumpfs, aus dem der Duft des ersten Anisschnapses aufsteigt. Uberall ubersturzen sich die Vorbereitungen fur das gro?e sonntagliche Treffen, das alle Mamas im voraus vor Ermattung zum Gahnen bringt, das fur mich aber etwas von einem phantastischen, vergessenen Ritus bekommt: das Mittagessen.

Es ist Sonntag. Ich betrachte forschend die Bucher, die sich auf dem Fensterbrett stapeln und eine ziemlich nutzlose kleine Bibliothek bilden, denn heute wird niemand kommen und mir daraus vorlesen. Seneca, Zola, Chateaubriand, Valery Larbaud sind einen Meter von mir entfernt, aber grausam unerreichbar.

Eine pechschwarze Fliege la?t sich auf meiner Nase nieder. Ich verdrehe den Kopf, um sie abzuschutteln. Sie klammert sich fest. Die griechisch-romischen Ringkampfe beiden Olympischen Spielen waren nicht so wild. Es ist Sonntag.

Les demoiselles de Hongkong

Ich habe das Reisen geliebt. Zum Gluck konnte ich im Laufe der Jahre genugend Bilder, Aromen, Eindrucke speichern, um an Tagen, wenn hier ein schiefergrauer Himmel jede Aussicht verstellt, auf Reisen gehen zu konnen. Das sind seltsame Streifzuge. Der ranzige Geruch einer New Yorker Bar. Der Duft des Elends auf dem Markt von Rangun. Reisen ans Ende der Welt. Die eiskalte wei?e Nacht von Sankt Petersburg oder die unglaubliche Wei?glut der Sonne von Furnace Creek in der Wuste von Nevada. Diese Woche ist es ein wenig speziell. Jeden Morgen in der Dammerung fliege ich nach Hongkong, wo der Kongre? der internationalen Ausgaben meiner Zeitschrift tagt. Ich sage weiterhin »meine Zeitschrift«, obwohl es nicht mehr zutrifft, so als bilde dieses Possessivpronomen einen der dunnen Faden, die mich mit der Welt verbinden, die sich bewegt.

In Hongkong habe ich ein wenig Probleme, mich zurechtzufinden, denn im Gegensatz zu vielen anderen Stadten war ich dort noch nie. Jedesmal, wenn sich die Gelegenheit bot, hielt eine boshafte Schicksalsfugung mich von diesem Ziel fern. Wenn ich nicht am Tag vor der Abreise krank wurde, verlegte ich meinen Pa?, oder eine Reportage berief mich an einen anderen Ort. Kurzum, der Zufall erteilte mir Aufenthaltsverbot. Einmal habe ich meinen Platz Jean-Paul K. uberlassen, der spater mehrere Jahre in einem Kerker in Beirut verbringen sollte, wo er sich die Liste der edlen Bordeaux-Weine aufsagte, um nicht verruckt zu werden. Seine Augen lachten hinter seinen runden Brillenglasern, als er mir aus Hongkong ein schnurloses Telefon mitbrachte, was damals der allerletzte Schrei war. Ich mochte Jean-Paul sehr, aber ich habe die Geisel der Hisbollah nie wiedergesehen, wahrscheinlich weil ich mich schamte, mich damals dafur entschieden zu haben, eine kleine Rolle in einer Welt des Luxus und der Moden zu spielen. Jetzt bin ich der Gefangene, und er ist der freie Mann. Und da ich nicht alle Weinguter im Medoc kenne, mu?te ich mir eine andere Litanei ausdenken, um die leersten Stunden auszufullen. Ich zahle die Lander, in denen meine Zeitschrift erscheint. Es gibt schon achtundzwanzig Staaten in dieser UNO der Verfuhrung.

Apropos, wo seid ihr, meine lieben Mitschwestern, ihr unermudlichen Botschafterinnen unseres french touch? Den ganzen Tag uber habt ihr im Salon eines Hotels auf chinesisch, englisch, thai, portugiesisch und tschechisch diskutiert, um die metaphysischste aller Prufungsfragen zu beantworten: Wer ist die Elle-Frau? Ich stelle mir euch jetzt in den neontriefenden Stra?en Hongkongs vor, wo man Taschencomputer und Schalen mit Nudelsuppe verkauft, wie ihr hinter der ewigen Fliege unseres Generaldirektors hertrippelt, der alle Mann im Sturmschritt anfuhrt. Halb Spirou, halb Bonaparte, bleibt er nur vor den hochsten Wolkenkratzern stehen und mustert sie so verwegen, als wolle er sie gleich verschlingen.

Wohin geht's, General? Springen wir auf das Tragflugelboot nach Macao, um ein paar Dollar in der Holle zu verbrennen, oder gehen wir hinauf in die Bar Felix im Hotel Peninsula, die der franzosische Designer Philippe S. ausgestattet hat? Ein Anfall von Narzi?mus la?t mich den zweiten Vorschlag wahlen. Ein Bildnis von mir, der ich es hasse, fotografiert zu werden, ist in dieser luftigen Schenke auf die Lehne eines Stuhls reproduziert, zusammen mit etwa zehn anderen Pariser Figuren, deren Portrat Philippe S. anfertigen lie?. Naturlich hat diese Aktion einige Wochen, bevor das Schicksal mich in eine Vogelscheuche verwandelte, stattgefunden. Ich wei? nicht, ob mein Sitz besser oder schlechter ankommt als die anderen, aber erzahlen Sie dem Barkeeper ja nicht die Wahrheit. Die Menschen dort sind aberglaubisch, und keine jener reizenden kleinen Chinesinnen im Minirock wurde sich mehr auf mich setzen.

Die Botschaft

Diese Ecke des Krankenhauses erweckt zwar den falschen Eindruck eines angelsachsischen College, aber die Stammgaste der Cafeteria gehoren ganz sicher nicht zum Club der toten Dichter. Die Madchen haben harte Augen, die Jungen Tatowierungen und manchmal Ringe an den Fingern. Sie sitzen in ihren Sesseln beisammen,

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