senkt sich uber den gro?en Garten, der in der Zeit des Glucks von so vielen Rufen, so viel Gelachter widerhallte. Theophile erwartet uns, auf seinem Rucksack sitzend, fertig furs Wochenende in der Diele. Ich wurde gern telefonieren, um die Stimme von Florence, meiner neuen Lebensgefahrtin, zu horen, aber sie wird jetzt wohl zum Sabbatgebet bei ihren Eltern sein. Ein einziges Mal habe ich diesem Ritual in einer judischen Familie beigewohnt. Das war hier, in Montainville, im Haus des alten tunesischen Arztes, der meine Kinder zur Welt gebracht hat.

Von da an wird alles unzusammenhangend. Mein Sehen trubt sich, und meine Gedanken geraten durcheinander. Ich setze mich trotzdem ans Steuer des BMW und konzentriere mich auf die rot-gelben Lichter des Armaturenbretts. Ich fahre im Zeitlupentempo und erkenne im Lichtstrahl der Scheinwerfer kaum die Kurven, die ich doch Tausende Male genommen habe. Ich fuhle Schwei? auf meiner Stirn perlen, und als uns ein Auto entgegenkommt, sehe ich es doppelt. An der ersten Kreuzung fahre ich auf die Seite. Ich steige schwankend aus dem BMW. Ich kann kaum gerade stehen. Ich lasse mich auf den Rucksitz fallen. Ich habe nur eine fixe Idee: zuruck ins Dorf zu fahren, wo auch meine Schwagerin Diane wohnt, die Krankenschwester ist. Halb bewu?tlos, bitte ich Theophile, sie schnell zu holen, sobald wir vor ihrem Haus ankommen. Einige Sekunden spater ist Diane da. Sie untersucht mich in weniger als einer Minute. Ihr Urteil lautet:

»Er mu? in die Klinik. So schnell wie moglich.« Bis dorthin sind es funfzehn Kilometer. Diesmal rast der Chauffeur wie ein Rennfahrer mit quietschenden Reifen los. Ich fuhle mich au?erst merkwurdig, so als hatte ich einen LSD-Trip eingeworfen, und ich sage mir, da? solche Phantasien nicht mehr zu meinem Alter passen. Nicht einen Augenblick kommt mir der Gedanke, da? ich vielleicht im Begriff bin, zu sterben.

Auf der Stra?e nach Mantes brummt der BMW in den hochsten Tonen, und wir uberholen eine ganze Schlange Autos, indem wir uns mit Hupen einen Weg bahnen. Ich will etwas sagen wie: »Wartet, es wird gleich wieder besser. Es lohnt nicht, einen Unfall zu riskieren«, aber kein Ton kommt aus meinem Mund, und mein unkontrollierbar gewordener Kopf wackelt hin und her. Die Beatles und ihr Song von heute morgen fallen mir wieder ein. And as the news were rather sad, I saw the photograph. Sehr schnell sind wir vor der Klinik. Leute rennen in alle Richtungen. Mit baumelnden Armen werde ich in einen Rollstuhl gehoben. Die Turen des BMW schlagen leise zu.

Jemand hat mir einmal gesagt, gute Autos erkenne man am Ton dieses Zuschlagens. Das Neonlicht der Flure blendet mich.

Im Aufzug uberschutten mich Unbekannte mit Ermutigungen, und die Beatles machen sich an das Finale von A day in the life.

Das Klavier, das aus dem sechzigsten Stock fallt. Bevor es aufschlagt, habe ich Zeit fur einen letzten Gedanken. Ich mu? im Theater absagen. Wir waren ohnehin zu spat gekommen.

Wir gehen morgen abend. Ubrigens, wo ist eigentlich Theophile? Und ich versinke im Koma.

Der Neubeginn

Der Sommer geht zu Ende. Die Nachte werden kuhler, und ich kuschele mich wieder unter die dicken blauen Decken mit dem Aufdruck »Krankenhauser von Paris«. Jeder Tag bringt sein Teil bekannter Gesichter zuruck, die die Ferienzeit ausgeklammert hatte: die fur die Wasche zustandige Frau, den Zahnarzt, den Postverteiler, eine Krankenschwester, die inzwischen Gro?mutter eines kleinen Thomas geworden ist, und den Pfleger, der sich im Juni an einem Bettgitter den Finger gebrochen hatte. Alle nehmen ihre vertrauten Gange und Gewohnheiten wieder auf, und dieser erste Neubeginn im Krankenhaus nach den Ferien bestatigt mich in einer Gewi?heit: Ich habe wirklich und wahrhaftig ein neues Leben begonnen, und es findet hier, zwischen diesem Bett, diesem Rollstuhl, diesen Fluren statt, und nirgendwo anders.

Ich schaffe es, das Lied vom Kanguruh zu brummen, die Testhymne meiner logopadischen Fortschritte:

»Das Kanguruh ist uber die Mauer gesprungen, Die Mauer vom Zoo, Mein Gott, war sie breit, Mein Gott, war es gescheit.«

Vom Neubeginn der anderen dringen nur gedampfte Echos zu mir. Neuerscheinungen in der Literatur, ein neues Schuljahr, eine neue Saison in Paris - bald werde ich mehr daruber wissen, wenn die Reisenden sich wieder auf den Weg nach Berck machen und in ihrem Gepack phantastische Neuigkeiten mitbringen. Angeblich lauft Theophile mit Sportschuhen herum, deren Absatze blinken, wenn er damit auftritt. Man kann ihm im Dunkeln folgen. Bis dahin genie?e ich zum ersten Mal seit langer Zeit fast leichten Herzens die letzte Augustwoche. Ich habe nicht mehr das schreckliche Gefuhl eines Countdowns, der, zu Beginn der Ferien in Gang gesetzt, unerbittlich deren gro?ten Teil verdirbt.

Die Ellbogen auf den rollbaren kleinen Resopaltisch gestutzt, der ihr als Schreibtisch dient, liest Claude mir diese Texte vor, die wir seit zwei Monaten jeden Nachmittag geduldig aus dem Nichts geholt haben. Es freut mich, manche Seiten wiederzuhoren. Andere enttauschen uns. Wird all das ein Buch ergeben? Wahrend ich ihr zuhore, betrachte ich ihr braunes Haar, ihre sehr blassen Wangen, die Sonne und Wind kaum etwas rosig gefarbt haben, ihre von langen blaulichen Venen durchzogenen Hande und die Szenerie, die das Erinnerungsbild eines arbeitsamen Sommers werden wird. Das gro?e blaue Heft, dessen rechte Seiten sie mit einer ordentlich uber die Linien laufenden Schrift fullt, das Federmappchen voll nachfullbarer Stifte, der Sto? Papierservietten fur den schlimmsten Speichelflu? und die Geldborse aus rotem Bast, aus der sie ab und zu das Kleingeld nimmt, um sich einen Kaffee zu holen. Durch den halboffenen Rei?verschlu? des Taschchens sehe ich einen Hotelzimmerschlussel, eine Metrokarte und einen zusammengefalteten Hundertfrancschein, die mir vorkommen wie von einer auf die Erde entsandten Raumsonde mitgebrachte Objekte, anhand deren die Wohn-, Transport- und Handelsbeziehungsweisen der Erdbewohner studiert werden sollen. Der Anblick macht mich ratlos und nachdenklich. Gibt es in diesem Kosmos einen Schlussel, um meine Taucherglocke aufzuriegeln? Eine Metrolinie ohne Endstation? Eine genugend starke Wahrung, um meine Freiheit zuruckzukaufen? Ich mu? anderswo suchen. Ich mache mich auf den Weg.

Berck-Plage, Juli- August
,

Примечания

1

L.I.S.: Locked-in-Syndrom

2

Pierrot le fou: Figur aus dem gleichnamigen Film von Jean-Luc Godard.

3

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