schlank, kraftig und beruhigend mit seiner rot-wei? gestreiften Livree, die einem Rugbytrikot ahnelte. Ich habe mich sofort unter den Schutz dieses bruderlichen Symbols begeben, das uber die Seeleute wacht wie uber die Kranken, diese Schiffbruchigen der Einsamkeit.

Wir sind in standiger Verbindung, und ich besuche ihn oft, wenn ich mich nach Cinecitta fahren lasse, eine der wichtigsten Gegenden in meiner imaginaren Geographie des Krankenhauses. Cinecitta, das sind die immer menschenleeren Terrassen von Haus Sorrel. Nach Suden gelegen, bieten diese weiten Balkone ein Panorama, dem der poetische und windschiefe Charme von Filmkulissen entstromt. Die Vororte von Berck sehen aus wie Modellbauten fur die elektrische Eisenbahn. Am Fu? der Dunen erwecken einige Baracken die Illusion einer Geisterstadt im Wilden Westen. Und was das Meer betrifft, so ist sein Schaum so wei?, da? er aus der Abteilung special effects zu stammen scheint.

Ich konnte ganze Tage in Cinecitta verweilen. Dort bin ich der gro?te Filmregisseur aller Zeiten. In der Stadt drehe ich noch einmal die erste Einstellung von Im Zeichen des Bosen.

Am Strand wiederhole ich noch einmal die Kamerafahrten in Ringo, und auf hoher See erschaffe ich noch einmal den Sturm, in den die Schmuggler in Moonfleet geraten. Oder ich lose mich einfach in der Landschaft auf, und nichts verbindet mich mehr mit der Welt als eine Freundeshand, die meine tauben Finger streichelt. Ich bin Pierrot le fou,[2] mit blauverschmiertem Gesicht und einem Kranz Dynamit um den Kopf. Die Versuchung, ein Streichholz anzuzunden, zieht schnell wie eine Wolke voruber. Und dann kommt die Stunde, da der Tag zur Neige geht, der letzte Zug nach Paris zuruckfahrt und ich wieder in mein Zimmer mu?. Ich warte auf den Winter. Warm eingemummelt konnen wir uns dann Zeit lassen, bis es dunkel wird, zuschauen, wie die Sonne untergeht und der Leuchtturm an ihre Stelle tritt, indem er Hoffnungsstrahlen in alle Richtungen wirft.

Die Touristen

Nachdem Berck direkt nach Kriegsende die jungen Opfer der letzten Tuberkuloseepidemien aufgenommen hatte, gab es seine Berufung als Kinderkrankenhaus nach und nach auf. Heute werden hier eher die Leiden des Alters bekampft, der unerbittliche Verfall von Korper und Geist, doch die Geriatrie ist nur ein Teil des Bildes, das man zeichnen mu?, um eine genaue Vorstellung von den Patienten der Einrichtung zu bekommen. Auf der einen Seite gibt es etwa zwanzig Falle von Dauerkoma, arme Teufel in einer endlosen Nacht, an den Pforten des Todes. Sie verlassen nie ihr Zimmer. Doch jeder wei?, da? sie da sind, und sie lasten seltsam auf der Gemeinschaft, wie ein schlechtes Gewissen. Auf der gegenuberliegenden Seite, neben der Kolonie der Alten ohne Angehorige, findet man einige Fettleibige mit verstorter Miene, deren betrachtlichen Korperumfang die Medizin zu reduzieren hofft. In der Mitte bildet ein beeindruckendes Bataillon Marschunfahiger das Gros der Truppe. Uberlebende des Sports, der Stra?e und aller nur moglichen und vorstellbaren Haushaltsunfalle, sind sie in Berck nur so lange auf der Durchreise, bis ihre gebrochenen Glieder wiederhergestellt sind. Ich nenne sie »die Touristen«.

Um das Bild zu vervollstandigen, mu? man noch eine Ecke fur uns finden, Federvieh mit gebrochenen Flugeln, Papageien ohne Stimme, Unglucksraben, die ihr Nest in einem abgelegenen Flur der neurologischen Abteilung eingerichtet haben. Naturlich verschandeln wir die Gegend. Ich kenne das leichte Unbehagen zu gut, das wir hervorrufen, wenn wir, still und steif, eine Gruppe von weniger benachteiligten Kranken durchqueren.

Der beste Posten zur Beobachtung dieses Phanomens ist der Gymnastikraum, in dem alle Rehabilitationspatienten zusammenkommen. Es ist wie fruher auf der Cour des Miracles, laut und bunt. In einem Spektakel von Schienen, Prothesen und mehr oder weniger komplizierten Apparaturen trifft man auf einen jungen Mann mit Ohrring, der sich mit dem Motorrad kaputtgefahren hat, eine Mammi in fluoreszierendem Trainingsanzug, die nach einem Sturz von einem Hocker wieder laufen lernt, und einen Halbclochard, von dem noch niemand in Erfahrung bringen konnte, wie er es fertiggebracht hat, da? die Metro ihm einen Fu? abfuhr. In Kreisen aufgereiht wie Zwiebelschalen, schwenkt diese Menschheit unter lockerer Aufsicht Arme und Beine, wahrend ich auf einer schiefen Ebene festgeschnallt bin, die nach und nach in die Vertikale befordert wird. Jeden Morgen verbringe ich eine halbe Stunde so aufgehangt, in hieratischer Habtachtstellung, die an das Erscheinen des steinernen Gasts im letzten Akt von Mozarts Don Giovanni erinnert. Unter mir wird gelacht, gescherzt, gerufen. Ich wurde gern an all dieser Frohlichkeit teilhaben, aber sobald ich mein einziges Auge auf sie richte, wenden alle, der junge Mann, die Mammi, der Clochard, den Kopf ab und haben das dringende Bedurfnis, den Branddetektor unter der Decke anzusehen. Die »Touristen« haben wohl sehr gro?e Angst vor Feuer.

Die Wurst

Jeden Tag nach meiner Vertikalisierung bringt mich ein Krankenwarter aus dem Gymnastikraum zuruck in mein Zimmer und stellt mich neben dem Bett ab, bis die Pfleger kommen und mich wieder hinlegen. Und jeden Tag ruft mir derselbe Krankenwarter, da es Mittag ist, mit wohlberechneter Jovialitat ein »Mahlzeit« zu, womit er sich bis zum nachsten Tag verabschieden will. Das ist naturlich ungefahr so, wie wenn man am 15. August »Frohliche Weihnachten« wunscht oder am hellichten Tag »Gute Nacht!« Seit acht Monaten habe ich alles in allem einige Tropfen Zitronenwasser und einen halben Loffel Joghurt zu mir genommen, die sich mit lautem Getose in den Atemwegen verirrt haben. Der Ernahrungsversuch, wie dieses Festessen hochtrabend genannt wurde, hat sich als untauglich erwiesen. Keine Sorge, deswegen bin ich trotzdem nicht verhungert. Mittels einer Sonde in den Magen sichern zwei oder drei Flaschen einer braunlichen Substanz mein tagliches Kalorienquantum. Zu meinem Vergnugen greife ich auf die lebendige Erinnerung an Geschmacker und Geruche zuruck, ein unerschopfliches Reservoir an Empfindungen. Es gab einmal die Kunst, Reste zu verwerten. Ich kultiviere die Kunst, Erinnerungen aufzukochen. Man kann sich jederzeit zwanglos zu Tisch setzen. Wenn ich ins Restaurant gehe, brauche ich nicht zu reservieren. Wenn ich selbst koche, gelingt es immer. Das B?uf bourguignon ist zart, das Rindfleisch in Gelee ist durchsichtig, und der Aprikosenkuchen hat die notige sauerliche Note. Je nach Laune leiste ich mir ein Dutzend Schnecken, Sauerkraut mit Speck und Wurstchen und eine Flasche Gewurztraminer, eine goldgelbe Spatlese, oder ich genie?e ein einfaches weichgekochtes Ei, in das ich ein Stuck Brot mit gesalzener Butter tunke. Wie kostlich! Das Eigelb lauft mir in langen, warmen Schlucken uber den Gaumen in die Kehle. Und es gibt nie Verdauungsprobleme. Naturlich verwende ich die besten Produkte: die frischesten Gemuse, fangfrische Fische, das am besten abgehangene Fleisch. Alles mu? vorschriftsma?ig zubereitet werden. Umganz sicherzugehen, habe ich mir von einem Freund das Rezept fur die echte Bratwurst aus Troyes schicken lassen, die aus dreierlei Fleischsorten, riemenartig miteinander verflochten, besteht. Auch beachte ich gewissenhaft die Jahreszeiten.

Augenblicklich erfrische ich meine Geschmacksnerven mit Melonenstucken und roten Fruchten. Austern und Wild kommen im Herbst dran, wenn ich bis dahin noch Lust auf sie habe, denn ich werde vernunftig, geradezu asketisch. Zu Beginn meines langen Fastens trieb mich der Mangel standig in meine imaginare Speisekammer. Ich hatte Hei?hunger. Heute konnte ich mich fast mit der Hausmacherwurst im Netz zufriedengeben, die noch immer in einem Winkel meines Kopfes hangt. Eine unregelma?ig geformte Lyoner Salami, sehr trocken und grob gehackt. Jede Scheibe schmilzt ein bi?chen auf der Zunge, bevor man sie kaut, um ihr volles Aroma herauszuholen. Diese Wonne ist fur mich beinah etwas Heiliges, ein Fetisch, dessen Geschichte fast vierzig Jahre zuruckreicht. Ich war noch im Alter der Bonbons, aber ich zog ihnen schon Fleisch und Wurst vor, und der Pflegerin meines Gro?vaters mutterlicherseits war aufgefallen, da? ich bei jedem meiner Besuche in der finsteren Wohnung am Boulevard Raspail mit reizendem Lispeln Wurst von ihr verlangte. Da sie so geschickt darin war, der Naschhaftigkeit von Kindern und Greisen nachzugeben, hat diese tuchtige Gouvernante am Ende einen Doppelsieg davongetragen, indem sie mir eine Wurst schenkte und meinen Gro?vater kurz vor seinem Tod heiratete.

Meine Freude, ein solches Geschenk zu bekommen, war ebenso gro? wie der Verdru?, den diese uberraschende Heirat in der Familie verursachte. Vom Gro?vater habe ich nur ein ziemlich verschwommenes Bild in Erinnerung, eine im Halbdunkel liegende Gestalt mit dem strengen Gesicht von Victor Hugo auf den alten Funfhundertfrancscheinen, die damals in Umlauf waren. Viel deutlicher sehe ich die Wurst vor mir, die zwischen meinen Spielsachen und meinen Bilderbuchern unpassend herumliegt. Ich furchte, ich werde nie eine bessere essen.

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