Der Schutzengel

Auf dem Namensschild an Sandrines wei?em Kittel steht: Logopadin, aber es mu?te hei?en: Schutzengel. Sie war es, die den Kommunikationscode eingefuhrt hat, ohne den ich von der Welt abgeschnitten ware. Zwar haben die meisten meiner Freunde das System nach einer Unterweisung ubernommen, aber hier im Krankenhaus sind Sandrine und eine Psychologin leider die einzigen, die es praktizieren.

Meistens steht mir also nur ein kummerliches Arsenal von mimischen Veranderungen, Augenblinzeln und Kopfschutteln zur Verfugung, um darum zu bitten, da? die Tur zugemacht, eine eingeklemmte Wasserspulung behoben, der Fernseher leiser gestellt oder ein Kopfkissen hochgeschoben wird. Es gelingt mir keineswegs immer. Im Laufe der Wochen hat mir diese erzwungene Einsamkeit zu einem gewissen Stoizismus verholfen und zu der Erkenntnis, da? das Krankenhauspersonal zweigeteilt ist. Da gibt es die Mehrheit, die mein Zimmer nicht betreten wurde, ohne zu versuchen, meine SOS-Signale zu begreifen, und die anderen, weniger gewissenhaften, die so tun, als sahen sie meine Notzeichen nicht, und wieder verschwinden. So wie dieser reizende Unmensch, der mir die Ubertragung des Fu?ballspiels Bordeaux-Munchen in der Halbzeit abgedreht hat und mir ein unwiderrufliches »Gute Nacht« zukommenlie?. Diese Unmoglichkeit der Kommunikation belastet naturlich weit uber die praktischen Aspekte hinaus. So kann man den Trost ermessen, den es fur mich bedeutet, wenn Sandrine zweimal am Tag an die Tur klopft, mit einem Schnutchen wie ein ertapptes Eichhornchen hereinschaut und auf einen Schlag alle bosen Geister vertreibt.

Die unsichtbare Taucherglocke, die mich standig umschlie?t, erscheint dann weniger bedruckend.

Die Logopadie ist eine Kunst, die es verdient, da? man sie kennt. Sie konnen sich nicht vorstellen, welche Turnubungen Ihre Zunge automatisch veranstaltet, um alle sprachlichen Laute hervorzubringen. Derzeit scheitere ich am »L«, ein armseliger Chefredakteur, der nicht einmal mehr den Namen seiner eigenen Zeitschrift aussprechen kann. An Gluckstagen finde ich zwischen zwei Hustenanfallen den Atem und die Energie, um einige Phoneme stimmlich zu artikulieren. An meinem Geburtstag ist es Sandrine gelungen, mich dazu zu bringen, das ganze Alphabet verstandlich auszusprechen. Ein schoneres Geschenk hatte man mir nicht machen konnen. Ich horte eine heisere Stimme aus der Tiefe der Zeiten, die die sechsundzwanzig Buchstaben dem Nichts entri?. Diese erschopfende Ubung gab mir das Gefuhl, ein Hohlenmensch zu sein, der dabei ist, die Sprache zu entdecken.

Manchmal unterbricht das Telefon unsere Arbeit. Ich nutze Sandrines Anwesenheit, um mit einigen mir Nahestehenden verbunden zu sein und Lebensbruchstucke aufzuschnappen, so wie man einen Schmetterling einfangt. Meine Tochter Celeste erzahlt von ihren Spazierritten auf dem Pony. In funf Monaten wird sie neun. Mein Vater erklart mir seine Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Er macht tapfer sein dreiundneunzigstes Lebensjahr durch. Das sind die beiden au?ersten Glieder der Kette aus Liebe, die mich umgibt und schutzt. Ich frage mich oft, wie diese einseitigen Dialoge auf meine Gesprachspartner wirken. Mich erschuttern sie. Wie gern wurde ich diesen liebevollen Anrufen etwas anderes als mein Schweigen entgegensetzen. Die sanfte Florence spricht nie mit mir, wenn ich nicht vorher laut in den Horer geatmet habe, den Sandrine an mein Ohr halt. »Jean- Do, bist du da?« fragt Florence beunruhigt am anderen Ende.

Ich mu? sagen, da? ich es manchmal selbst nicht mehr so recht wei?.

Die Fotografie

Als ich meinen Vater das letzte Mal sah, habe ich ihn rasiert. Das war in derselben Woche wie mein Hirnschlag. Da es ihm nicht gutging, habe ich bei ihm in seiner kleinen Pariser Wohnung in der Nahe der Tuilerien ubernachtet, und morgens, nachdem ich ihm seinen Tee mit Milch gekocht hatte, habe ich mich daran gemacht, ihn von seinem Mehrere-Tage-Bart zu befreien. Diese Szene ist mir unausloschlich in Erinnerung.

Tief in den Sessel aus rotem Filz eingesunken, in dem er fur gewohnlich die Zeitungen ausschlachtet, trotzt Papa tapfer dem blinkenden Rasiermesser, das sich an seine schlaffe Haut macht. Ich habe ihm ein breites Handtuch um den hageren Hals gelegt, habe eine dicke Wolke Schaum auf seinem Gesicht verteilt und versuche seine stellenweise von geplatzten Aderchen durchzogene Haut nicht zu sehr zu reizen. Vor Mudigkeit liegen die Augen tief in ihren Hohlen, die Nase tritt starker aus dem abgezehrten Gesicht hervor, aber der Mann hat nichts verloren von seiner imposanten Erscheinung mit der wei?en Haarpracht, die seine gro?e Gestalt von jeher kront.

Ringsum im Zimmer haben sich so viele Schichten seiner Lebenserinnerungen angehauft, bis eine jener Rumpelkammern alter Leute entstanden ist, deren Geheimnisse nur ihnen allein bekannt sind. Es ist ein Durcheinander von alten Zeitschriften, Schallplatten, die kein Mensch mehr hort, verschiedenartigsten Gegenstanden und Fotos aus allen Epochen, die unter dem Rahmen eines gro?en Spiegels stecken. Da ist Papa im Matrosenanzug, wie er mit dem Reifen spielt, vor dem Ersten Weltkrieg, meine Tochter mit acht Jahren als Amazone und eine Aufnahme von mir, schwarzwei?, auf einem Minigolfplatz. Ich war elf Jahre alt, hatte Blumenkohlohren und sehe aus wie ein etwas dummer Streber, was um so haarstraubender ist, als ich damals schon ein professioneller Faulpelz war.

Ich beende mein Amt als Barbier damit, meinen Erzeuger mit seinem Lieblingstoilettenwasser zu besprengen. Dann verabschieden wir uns, ohne da? er, wie sonst oft, auf den Brief in seinem Schreibtisch zu sprechen kommt, in dem sein Letzter Wille steht. Seither haben wir uns nicht wiedergesehen. Ich verlasse meine Sommerfrische in Berck nicht, und mit zweiundneunzig Jahren erlauben ihm seine Beine nicht mehr, die majestatische Treppe seines Wohnhauses hinunterzusteigen. Wir haben beide das Locked-in-Syndrom, jeder auf seine Weise, ich in meinem Gehause, er in seinem dritten Stock. Jetzt werde ich jeden Morgen rasiert, und ich denke oft an ihn, wenn ein Pfleger mir mit einer acht Tage alten Klinge sorgfaltig die Wangen schabt. Ich hoffe, ich habe einen aufmerksameren Figaro abgegeben.

Hin und wieder ruft er mich an, und ich kann seine warmherzige Stimme horen, die ein wenig in dem Horer zittert, den eine hilfreiche Hand an mein Ohr druckt. Es ist bestimmt nicht einfach, mit einem Sohn zu sprechen, von dem man ganz genau wei?, da? er nicht antworten wird. Er hat mir auch das Foto vom Minigolfplatz geschickt. Zuerst habe ich nicht verstanden, warum. Es ware ein Ratsel geblieben, wenn nicht jemand auf die Idee gekommen ware, auf die Ruckseite zu sehen. Mit einem Mal sind in meinem privaten Kino lange vergessene Bilder erschienen, Bilder eines Wochenendes im Fruhling, an dem meine Eltern mit mir zum Durchluften in einen windigen Marktflecken, in dem nicht viel los war, gefahren waren. Mit seiner regelma?igen, gestochenen Handschrift hat Papa auf dem Foto nur vermerkt: Berck-sur-Mer, April 1963.

Noch ein Zufall

Fragte man die Leser von Alexandre Dumas, in welcher seiner Figuren sie gern wiedergeboren wurden, die meisten wurden sich wohl fur D'Artagnan oder Edmond Dantes entscheiden, und keiner kame auf die Idee, Noirtier de Villefort zu nennen, die ziemlich sinistre Figur aus Der Graf von Monte Christo. Als Leiche mit lebhaftem Blick, als ein schon zu drei Vierteln dem Grab Geweihter, wie ihn Dumas beschrieben hat, bringt einen dieser vollstandig Behinderte nicht zum Traumen, sondern zum Erschauern. Ohnmachtiger und stummer Mitwisser der furchtbarsten Geheimnisse, verbringt er sein Leben entkraftet in einem Stuhl mit Rollen sitzend und kommuniziert nur, indem er mit den Augen blinzelt: ein Blinzeln bedeutet ja, zwei nein. Tatsachlich ist Opapa Noirtier, wie ihn seine Enkelin zartlich nennt, der erste Fall von Locked-in-Syndrom, und bis heute der einzige, den es in der Literatur gegeben hat.

Seit mein Geist aus dem dichten Nebel aufgetaucht ist, in den mein Hirnschlag ihn versenkt hatte, habe ich viel an Opapa Noirtier gedacht. Ich hatte den Grafen von Monte Christo gerade wiedergelesen, und nun fand ich mich selbst mitten in diesem Buch, in der allermi?lichsten Lage. Diese Lekture kam nicht von ungefahr. Ich hatte den zweifellos ikonoklastischen Plan, eine moderne Version dieses Romans zu schreiben: Die Rache blieb naturlich das Movens der Handlung, aber sie spielte in unserer Zeit, und Monte Christo

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