war eine Frau.

Ich habe nun also keine Zeit gehabt, diese verbrecherische Majestatsbeleidigung zu begehen. Als Strafe ware ich lieber in andere Figuren aus dem Roman, in Baron Danglars, in Frantz d'Epinay, in Abbe Faria, verwandelt worden oder hatte alles in allem lieber zehntausendmal schreiben mussen: Man tandelt nicht mit Meisterwerken. Die Gotter der Literatur und der Neurologie haben anders daruber entschieden.

An manchen Abenden habe ich das Gefuhl, da? Opapa Noirtier mit seinem langen wei?en Haar und seinem hundert Jahre alten Rollstuhl, der einen Tropfen Ol brauchte, in unseren Fluren patrouilliert. Um die Beschlusse des Schicksals umzukehren, habe ich jetzt eine gro?e Saga im Kopf, in der der entscheidende Zeuge eher ein Laufer als ein Gelahmter ist.

Man wei? ja nie. Vielleicht klappt es.

Der Traum

Im allgemeinen erinnere ich mich nicht an meine Traume.

Sobald es Tag wird, verliere ich den Faden des Szenarios, und die Bilder verwischen sich unerbittlich. Warum sind dann jene Dezembertraume mit der Prazision eines Laserstrahls in mein Gedachtnis eingraviert? Vielleicht gehort es zum Wesen des Komas. Da man nicht in die Realitat zuruckfindet, konnen die Traume nicht in Ruhe verfliegen, sondern ballen sich zusammen und bilden eine lange Phantasmagorie, die sich wie ein Fortsetzungsroman immer neu belebt. Auch heute abend fallt mir wieder eine Episode ein.

In meinem Traum schneit es in dicken Flocken. Eine drei?ig Zentimeter dicke Schicht bedeckt den Autofriedhof, uber den mein bester Freund und ich vor Kalte schlotternd gehen. Seit drei Tagen versuchen Bernard und ich, wieder nach Frankreich zu gelangen, das von einem Generalstreik gelahmt ist. In einem italienischen Wintersportort, in dem wir gestrandet waren, hatte Bernard einen Bummelzug nach Nizza entdeckt, aber an der Grenze unterbrach eine Absperrung durch Streikende unsere Reise, und wir mu?ten in leichten Schuhen und Ubergangskleidung in den Sturm hinaus. Die Szenerie ist unheimlich. Ein Viadukt fuhrt uber den Autofriedhof, und man konnte meinen, es waren von der Autobahn, funfzig Meter uber uns, herabgesturzte Fahrzeuge, die sich da stapeln. Wir haben eine Verabredung mit einem machtigen italienischen Geschaftsmann, der sein Hauptquartier in einem Pfeiler dieses Kunstwerks, weitab von neugierigen Blicken eingerichtet hat.

Man mu? an eine Tur aus gelbem Eisen klopfen, mit einem Schild LEBENSGEFAHR und Anleitungen zur Ersten Hilfe fur unter Strom Stehende. Die Tur geht auf. Der Vorraum erinnert an das Lager eines Konfektionsschneiders in der Rue du Sentier: Jacken auf einer Kleiderstange, stapelweise Hosen, Kartons mit Hemden bis unter die Decke. An seiner wilden Mahne erkenne ich den Zerberus im Kampfanzug, der uns mit einer Maschinenpistole in der Hand begru?t. Es ist Radovan Karadzic , der serbische Fuhrer. »Mein Kamerad kriegt keine Luft«, sagt Bernard zu ihm. Karadzic macht mir einen Luftrohrenschnitt, dann steigen wir uber eine prunkvolle Glastreppe hinunter ins Untergescho?. Die mit fahlrotem Leder bespannten Wande, weiche Sofas und eine gedampfte Beleuchtung verleihen diesem Buro etwas Nachtklubhaftes.

Bernard diskutiert mit dem Hausherrn, einem Klon von Gianni Agnelli, dem eleganten Chef von Fiat, wahrend mich eine Hoste? mit libanesischem Akzent an eine kleine Bar fuhrt.

Glaser und Flaschen sind durch Plastikschlauche ersetzt, die von der Decke fallen wie die Sauerstoffmasken in absturzenden Flugzeugen. Ein Barkeeper gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, ich solle mir einen davon in den Mund stecken, was ich auch tue. Eine nach Ingwer schmeckende, bernsteinfarbene Flussigkeit flie?t hindurch, und ein Gefuhl von Warme durchdringt mich von den Zehenspitzen bis in die Haarwurzeln. Nach einer Weile wurde ich gern aufhoren zu trinken und von meinem Hocker heruntersteigen. Trotzdem trinke ich, unfahig zur geringsten Bewegung, in gro?en Schlucken weiter. Ich werfe dem Barkeeper verschreckte Blicke zu, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Er antwortet mit einem ratselhaften Lacheln. Um mich herum verzerren sich Gesichter und Stimmen. Bernard sagt etwas zu mir, aber die Tone, die im Zeitlupentempo aus seinem Mund kommen, sind unverstandlich. Statt dessen hore ich den Bolero von Ravel. Man hat mich vollstandig unter Drogen gesetzt.

Eine Ewigkeit spater nehme ich Kampfgetose wahr. Die Hoste? mit dem libanesischen Akzent ladt mich auf ihren Rucken und schleppt mich die Treppe hinunter. »Wir mussen weg, die Polizei kommt.« Drau?en ist es Nacht geworden, und es schneit noch starker. Ein eisiger Wind raubt mir den Atem.

Auf dem Viadukt hat man einen Scheinwerfer aufgestellt, dessen Lichtkegel zwischen den verlassenen Wracks herumstobert.

»Ergebt euch, ihr seid umzingelt!« schreit ein Megaphon. Es gelingt uns zu fliehen, und das ist fur mich der Beginn eines langen Umherirrens. In meinem Traum wurde ich gern die Flucht ergreifen, aber sobald ich Gelegenheit dazu habe, verwehrt mir eine unsagbare Apathie, einen einzigen Schritt zu tun. Ich bin versteinert, mumifiziert, zu Glas geworden. Wenn mich eine Tur von der Freiheit trennt, habe ich nicht die Kraft, sie zu offnen. Doch das ist nicht meine einzige Angst. Als Geisel einer mysteriosen Sekte furchte ich, da? meine Freunde in die gleiche Falle geraten. Ich versuche mit allen Mitteln, sie zu warnen, aber mein Traum deckt sich voll und ganz mit der Realitat. Ich bin unfahig, ein Wort zu sprechen.

Die Stimme aus dem Off

Ich bin schon auf sanftere Weise geweckt worden. Als ich an jenem Morgen Ende Januar zu mir kam, stand ein Mann uber mich gebeugt und nahte mit Nadel und Faden, wie man ein Paar Socken stopft, mein rechtes Augenlid zu. Ich wurde von einer unsinnigen Angst gepackt: Wird mir der Augenarzt, einmal in Schwung, auch das linke Auge zunahen, meine einzige Verbindung mit der Au?enwelt, das einzige Oberlicht meines Kerkers, das Bullauge in meiner Taucherglocke? Zum Gluck wurde ich nicht ins Dunkel getaucht. Er verstaute seine kleinen Gerate sorgsam in mit Watte ausgekleidete Blechdosen und lie? im Ton eines Staatsanwalts, der fur einen Ruckfalligen eine exemplarische Strafe fordert, knapp verlauten: »Sechs Monate.« Mit meinem sehtuchtigen Auge vervielfachte ich die fragenden Signale, doch der gute Mann verbringt zwar seine Tage damit, die Augen anderer unter die Lupe zu nehmen, aber deswegen kann er noch lange nicht die Blicke lesen. Er ist der Prototyp des Hauptsache-die-Kasse-stimmt-Arztes, eingebildet, herrisch, dunkelhaft, der die Patienten gebieterisch fur acht Uhr bestellt, selbst um neun Uhr kommt und um funf nach neun wieder geht, nachdem er jedem funfundvierzig Sekunden seiner kostbaren Zeit gewidmet hat. Au?erlich hat er Ahnlichkeit mit Max la Menace,[3] ein dicker, runder Kopf auf einem untersetzten, ruckartig sich bewegenden Korper. Schon bei den gewohnlichen Kranken ist er wenig gesprachig, aber bei Gespenstern wie mir verfluchtigt er sich geradezu und hat keinen Atem zu vergeuden, um uns die kleinste Erklarung zu geben. Ich erfuhr schlie?lich, warum er mein Auge fur sechs Monate abgedichtet hatte: das Lid erfullte nicht mehr seine Aufgabe als beweglicher, schutzender Vorhang, und es bestand die Gefahr einer Geschwurbildung auf der Hornhaut.

Im Lauf der Wochen habe ich mich gefragt, ob das Krankenhaus nicht absichtlich einen so garstigen Menschen beschaftigt, um das dumpfe Mi?trauen, das das medizinische Personal irgendwann bei den Langzeitpatienten hervorruft, auf ihn zu konzentrieren. Eine Art Prugelknabe. Falls er weggeht, wie es hei?t, uber welche aufgeblasene Null werde ich mich dann lustig machen konnen? Auf seine ewige Frage: »Sehen Sie doppelt?« werde ich nicht mehr das einsame, harmlose Vergnugen haben, mich in meinem tiefsten Innern antworten zu horen: »Ja, ich sehe zwei Arschlocher anstelle von einem.« Wie die Luft zum Atmen brauche ich es, Gefuhle zu haben, zu lieben und zu bewundern. Der Brief eines Freundes, ein Gemalde von Balthus auf einer Postkarte, eine Seite Saint-Simon geben den Stunden, die vergehen, einen Sinn. Aber um auf dem Quivive zu bleiben und nicht in lauer Resignation zu versinken, bewahre ich mir ein Quantum Wut und Abscheu, nicht zuviel und nicht zuwenig, so wie der Schnellkochtopf sein Ventil hat, um nicht zu explodieren.

Apropos, Der Schnellkochtopf konnte ein Titel fur das Theaterstuck sein, das ich vielleicht eines Tages uber meine Erfahrung schreiben werde. Ich habe auch schon daran gedacht, es Das Auge zu nennen oder naturlich Die Taucherglocke. Handlung und Kulisse kennen Sie ja schon.

Das Krankenhauszimmer, in dem Monsieur L., ein Familienvater in den besten Jahren, allmahlich lernt, mit

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×