dem Locked-in-Syndrom zu leben, der Folge eines schweren Herz-Kreislauf-Versagens. Das Stuck erzahlt von Monsieur L.s Abenteuern in der Welt der Medizin und von der Entwicklung seiner Beziehung zu seiner Frau, seinen Kindern, Freunden und Teilhabern in der angesehenen Werbeagentur, deren Mitbegrunder er ist. Ehrgeizig und ziemlich zynisch, bisher ohne Mi?erfolge davongekommen, erfahrt Monsieur L., was Verzweiflung ist, sieht alle Gewi?heiten, mit denen er gewappnet war, zusammenbrechen und entdeckt, da? die ihm Nahestehenden Unbekannte fur ihn sind. Diese langsame Veranderung kann man dank einer Stimme aus dem Off, Monsieur L.s innerem Monolog in samtlichen Situationen, aus nachster Nahe verfolgen. Das Stuck braucht nur noch geschrieben zu werden. Die letzte Szene habe ich schon im Kopf. Die Buhne ist in Halbdunkel getaucht, mit Ausnahme eines Lichthofs, in dessen Mitte das Bett steht. Es ist Nacht, alles schlaft. Plotzlich schlagt Monsieur L., der, seit der Vorhang aufgegangen ist, reglos dagelegen hat, die Bettdecke zuruck, springt aus dem Bett und geht in der unwirklichen Beleuchtung rund um die Buhne. Dann wird es dunkel, und man hort ein letztes Mal die Stimme aus dem Off, Monsieur L.s inneren Monolog: »Schei?e, es war ein Traum.«

Ein Gluckstag

Kaum ist der Tag angebrochen, da wird Zimmer 119 heute morgen vom Ungluck heimgesucht. Seit einer halben Stunde ertont der Alarm des Apparats, der meine Ernahrung reguliert, ins Leere hinein. Ich kenne nichts Dummeres und Abscheulicheres als dieses schrille »piep, piep«, das am Gehirn nagt. Obendrein ist durch meine Transpiration das Pflaster abgegangen, das mein rechtes Augenlid verschlie?t, und die verklebten Wimpern kitzeln schmerzhaft meine Pupille. Und um das Ganze zu kronen, ist auch noch mein Blasenkatheter herausgerutscht. Ich liege in einer Uberschwemmung. Wahrend ich auf Hilfe warte, summe ich im stillen einen alten Schlager von Henri Salvador: »Ach komm, Baby, das alles ist doch nicht so schlimm.« Jetzt kommt ubrigens die Schwester. Mechanisch macht sie den Fernsehapparat an. Es lauft Werbung. Ein Minitel-Anbieter, »5617 Milliarden«, stellt die Frage: »Sind Sie ausersehen, Ihr Gluck zu machen?«

Die Spur der Schlange

Wenn mich jemand zum Spa? fragt, ob ich vorhabe, eine Wallfahrt nach Lourdes zu machen, antworte ich, die habe ich schon gemacht. Es war Ende der siebziger Jahre.

Josephine und ich hatten eine hinreichend komplizierte Beziehung, um auszuprobieren, ob wir gemeinsam eine Vergnugungsreise hinbrachten, einen dieser Ausfluge in Etappen, die ebenso viele Keime zur Zwietracht enthalten, wie ein Tag Minuten hat. Um morgens loszufahren, ohne zu wissen, wo man abends ubernachten wird, und ohne eine Ahnung, wie man dieses unbekannte Ziel erreicht, mu? man entweder sehr diplomatisch oder abgrundtief unaufrichtig sein.

Josephine gehorte wie ich zur zweiten Kategorie, und eine Woche lang war ihr bla?blaues altes Cabrio der mobile Schauplatz permanenter Szenen einer Ehe. Von Ax-les-Thermes, wo ich gerade eine Wandertour beendet hatte - ein unpassender Einschub in ein Leben, das sich allem, au?er dem Sport widmete -, nach Chambre d'Amour, einem kleinen Strand an der baskischen Kuste, wo Josephines Onkel eine Villa besa?, machten wir eine sturmische und wunderbare Reise durch die Pyrenaen und lie?en ein Kielwasser von »Das-hab-ich-nie-gesagt« hinter uns.

Der Hauptgrund fur diese herzliche Unstimmigkeit war ein dickes Buch von sechs- oder siebenhundert Seiten mit einem schwarz-roten Einband, von dem sich ein rei?erischer Titel abhob. Die Spur der Schlange erzahlte das Tun und Treiben von Charles Sobraj, einer Art Guru der Landstra?e, der bei Bombay oder Katmandu westliche Reisende behexte und ausplunderte. Die Geschichte dieser Schlange franzosisch-indischer Herkunft war authentisch. Abgesehen davon konnte ich nicht mehr die kleinste Einzelheit angeben, und es ist sogar moglich, da? meine Zusammenfassung nicht stimmt. Woran ich mich aber genau erinnere, ist die Macht, die Charles Sobraj auch uber mich hatte. Wenn ich hinter Andorra noch bereit war, die Augen von meinem Buch zu losen, um eine Landschaft zu bewundern, so war es am Pic du Midi so weit, da? ich mich rundweg weigerte, aus dem Auto auszusteigen, um den Spaziergang bis zum Aussichtspunkt zu machen.

Allerdings war der Berg an jenem Tag auch in dichten Nebel gehullt, weshalb sich die Aussicht und uberhaupt der Reiz des Ausflugs in Grenzen hielten. Nichtsdestoweniger lie? Josephine mich da sitzen und ging zwei Stunden in den Wolken schmollen. Wollte sie deshalb unbedingt uber Lourdes fahren, um den Bann von mir zu nehmen? Da ich noch nie in dieser Welthauptstadt des Wunders gewesen war, stimmte ich ohne Murren zu. Jedenfalls verschmolz Charles Sobraj in meinem von der Lekture fiebrigen Geist mit Bernadette Soubirous,[4] und die Wasser des Adour vermischten sich mit denen des Ganges.

Am nachsten Tag, nachdem wir einen Pa? der Tour de France uberquert hatten, dessen Uberwindung ich sogar im Auto anstrengend fand, fuhren wir bei erstickender Hitze in Lourdes ein. Josephine sa? am Steuer, ich neben ihr. Und Die Spur der Schlange thronte deformiert und angeschwollen auf dem Rucksitz. Seit dem Morgen hatte ich nicht gewagt, sie anzuruhren, da Josephine entschieden hatte, da? meine Leidenschaft fur diese exotische Saga auf ein Desinteresse ihr gegenuber schlie?en lie?. Es war die Hochsaison der Wallfahrten, und die Stadt war voll belegt. Ich unternahm es trotzdem, die Hotels systematisch durchzukammen, und sah mich, je nach dem Niveau des Etablissements, mit vorwurfsvollem Achselzucken oder einem »Es-tut-uns-wirklich-leid« konfrontiert. Mein Hemd klebte vor Schwei? an meinem Rucken, und das Gespenst eines neuen Streits schwebte uber uns, als der Portier eines Hotels von England, von Spanien, vom Balkan oder von was wei? ich mich im sentenziosen Ton eines Notars, der den Erben das unerwartete Hinscheiden eines reichen Onkels in Amerika verkundet, von einem Rucktritt informierte. Ja, er hatte ein Zimmer. Ich unterlie? es, zu sagen: »Das ist ja ein Wunder«, denn ich spurte instinktiv, da? man hier mit diesen Dingen nicht scherzte. Der Aufzug war uberdimensional, gro? genug fur fahrbare Liegen, und als ich zehn Minuten spater unter der Dusche stand, stellte ich fest, da? sogar das Badezimmer behindertengerecht war.

Wahrend Josephine ihrerseits die notigen Waschungen vornahm, sturzte ich mich, mit einem blo?en Handtuch bekleidet, auf die herrliche Oase aller Verdurstenden: die Minibar. Als erstes leerte ich in einem Zug eine kleine Flasche Mineralwasser. O Flasche, auf immer werde ich deinen Glashals an meinen trockenen Lippen spuren. Danach bereitete ich fur Josephine eine Schale Champagner und fur mich einen Gin-Tonic zu. Nachdem ich mein Amt als Barkeeper ausgeubt hatte, unternahm ich verstohlen einen strategischen Ruckzug zu Charles Sobrajs Abenteuern, aber statt der erwarteten beruhigenden Wirkung erweckte der Champagner Josephines touristische Neigung wieder zu ihrer ganzen Kraft. »Ich will die Jungfrau Maria sehen«, wiederholte sie und hupfte auf der Stelle wie der katholische Schriftsteller Francois Mauriac auf einem beruhmten Foto.

Unter einem verhangenen, bedrohlichen Himmel machten wir uns also auf zu dem heiligen Ort und stiegen hinauf, vorbei an einer ununterbrochenen Kolonne von Rollstuhlen, die von wohltatigen Damen geschoben wurden, die offensichtlich nicht zum ersten Mal mit einem Gelahmten unterwegs waren.

»Wenn's Regen gibt, alle in die Basilika!« schmetterte die fromme Schwester, die den Zug anfuhrte, autoritar mit flatternder Haube und dem Rosenkranz in der Hand. Ich beobachtete verstohlen die Kranken, diese verkrummten Hande, diese verschlossenen Gesichter, diese in sich zusammengesunkenen Haufchen Leben. Die Augen eines solchen Kranken begegneten meinem Blick, und ich deutete ein Lacheln an, aber er erwiderte es damit, da? er mir die Zunge herausstreckte. Ich spurte, da? ich, wie ertappt, einfaltig bis zu den Ohren errotete. Mit rosa Turnschuhen, rosa Jeans, rosa Sweatshirt schritt Josephine entzuckt inmitten einer dunklen Menge voran: Alle franzosischen Priester, die sich noch wie Priester kleiden, schienen sich hier verabredet zu haben. Sie geriet fast in Ekstase, als dieser Chor von Soutanen ein Maria, breit' den Mantel aus anstimmte, den Choral ihrer Kindheit. Ein etwas unaufmerksamer Beobachter hatte sich allein aufgrund der Stimmung in der Nahe des Pariser Stadions Parc des Princes wahrend eines Europacupspiels wahnen konnen.

Auf dem gro?en freien Platz vor dem Eingang zur Grotte wand sich im qualenden Rhythmus der Ave-Marias eine einen Kilometer lange Schlange. Nie hatte ich eine so lange Reihe von Wartenden gesehen, au?er vielleicht in

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×