Moskau vor dem Lenin-Mausoleum.

»Hor mal, ich stelle mich nicht so lange an!«

»Schade«, erwiderte Josephine, »das wurde einem Unglaubigen wie dir guttun.«

»Ganz und gar nicht, es ist sogar gefahrlich. Stell dir einen kerngesunden Typ vor, der mitten in eine Erscheinung hineinplatzt. Ein Wunder, und schon ist er gelahmt.« Zehn Kopfe drehten sich zu mir um, um zu sehen, wer da so blasphemisch daherredete. »Idiot«, flusterte Josephine. Ein Platzregen sorgte fur Ablenkung. Gleich bei den ersten Tropfen erlebte man eine Urzeugung von Regenschirmen, und ein Geruch nach hei?em Staub schwebte in der Luft.

Wir lie?en uns mitrei?en bis zur unterirdischen Basilika von Johannes XXIII., diesem gigantischen Gebetshangar, in dem von sechs Uhr morgens bis Mitternacht mit einem Priesterwechsel nach jeweils zwei oder drei Gottesdiensten die Messe gelesen wird. Ich hatte in einem Fuhrer gelesen, da? das Betonkirchenschiff gro?er ist als der Petersdom in Rom und mehrere Jumbo-Jets darin Platz gefunden hatten. Ich folgte Josephine auf eine der Emporen, wo unter einem der unzahligen Lautsprecher, welche die Zeremonie mit vielen Echos ubertrugen, noch Platze frei waren. »Geruhmt sei Gott im allerhochsten Himmel… allerhochsten Himmel… Himmel…« Bei der Erhebung der Hostie holte mein Nebenmann, ein vorausschauender Pilger, ein Fernglas furs Pferderennen aus seinem Rucksack, um die Operationen zu beaufsichtigen. Andere Glaubige hatten behelfsma?ige Sehrohre dabei, wie man sie beim Umzug am 14. Juli sieht.

Josephines Vater hatte mir oft erzahlt, wie er mit dem Verkauf solcher Artikel an den Metro-Eingangen angefangen hatte, Geld zu verdienen. Das hatte ihn nicht davon abgehalten, eine gro?e Nummer beim Rundfunk zu werden. Nunmehr setzte er sein Talent als Stra?enhandler dazu ein, Furstenhochzeiten, Erdbeben und Boxkampfe zu kommentieren. Drau?en hatte der Regen aufgehort. Die Luft hatte sich abgekuhlt. Josephine lie? das Wort »shopping« verlauten. Um dieser Moglichkeit vorzubeugen, hatte ich die Hauptstra?e ausfindig gemacht, in der die Andenkenladen dicht an dicht lagen wie in einem orientalischen Souk und den extravagantesten religiosen Kitsch zur Schau stellten.

Josephine sammelte: alte Parfumflakons, landliche Bilder mit einzelner Kuh oder Kuhherde, Teller mit unechten Speisen, wie sie in den Auslagen der Restaurants in Tokio als Speisekarte dienen, und ganz allgemein das Kitschigste, was sie auf ihren zahlreichen Reisen fand. Hier nun war es wirklich Liebe auf den ersten Blick. Im vierten Geschaft, auf dem linken Burgersteig schien sie Josephine in einem Wirrwarr von frommen Munzen, Schweizer Kuckucksuhren und Kasetellern zu erwarten. Eine reizende Stuckbuste mit einem blinkenden Heiligenschein, der aussah wie Christbaumschmuck.

»Da ist meine Jungfrau Maria!« triumphierte Josephine.

»Ich schenke sie dir«, sagte ich sofort, ohne eine Vorstellung von dem Betrag, den der Handler mir mit der Behauptung, es sei ein Einzelstuck, abknopfen sollte. Am Abend in unserem Hotelzimmer feierten wir unsere Anschaffung in ihrem blinkenden, heiligen Licht. An der Decke zeichnete sich ein phantastischer Schatten ab.

»Wei?t du, Josephine, ich glaube, wir mussen uns trennen, wenn wir wieder in Paris sind.«

»Meinst du, ich hatte das noch nicht kapiert!«

»Aber Jo…« Sie war eingeschlafen. Sie hatte die Gabe, augenblicklich in schutzenden Schlaf zu fallen, wenn eine Situation ihr mi?fiel.

Sie beurlaubte sich fur funf Minuten oder mehrere Stunden vom Leben. Eine Weile beobachtete ich, wie das Stuck Wand uber dem Kopfende des Bettes aus der Dunkelheit trat und wieder verschwand. Welcher Damon konnte Leute dazu treiben, ein ganzes Zimmer mit orangefarbener Jute zu bespannen?

Da Josephine noch immer schlief, zog ich mich leise an, um einer meiner Lieblingsbeschaftigungen nachzugehen: nachtliches Umherstreifen. Das war meine Art, gegen Widrigkeiten anzukampfen: bis zur Erschopfung vor mich hin zu laufen. Auf der Stra?e kippten hollandische Jugendliche gerauschvoll gro?e Schoppen Bier hinunter. Sie hatten Locher in Mullsacke geschnitten, um sich Regenmantel daraus zu machen. Schwere Gitter verwehrten den Zugang zur Grotte, aber durch sie hindurch konnte man den Schein von Hunderten von Kerzen sehen, die dort herunterbrannten. Viel spater fuhrte mich mein Umherirren wieder in die Stra?e der Andenkenladen. Im vierten Schaufenster hatte eine vollig identische Maria bereits den Platz der unseren eingenommen.

Da bin ich zum Hotel zuruckgegangen, und schon von weitem sah ich unser Zimmer, das mitten im Halbdunkel blinkte. Ich bin die Treppe hinaufgestiegen und habe mich dabei bemuht, die Traume des Nachtportiers nicht zu storen. Die Spur der Schlange lag wie ein Schmuckstuck in seinem Kastchen aufgeschlagen auf meinem Kopfkissen. »Ach«, murmelte ich, »Charles Sobraj, den hatte ich vollig vergessen.« Ich erkannte Josephines Schrift. Ein riesiges I lief quer uber die Seite 168. Es war der Anfang einer Botschaft, die sich uber gut zwei Kapitel des Buchs hinzog und sie ganz unlesbar machte.

Ich liebe dich, Ducon. La? deine Josephine nicht leiden.

Zum Gluck war ich mit der Lekture schon weiter.

Als ich die Jungfrau Maria ausknipste, brach gerade der neue Tag an.

Der Vorhang

Heimlich beobachte ich meine Kinder, zusammengesunken in meinem Rollstuhl, den ihre Mutter durch die Krankenhausflure schiebt. Ich bin zwar ein etwas zombiehafter Vater geworden, aber Theophile und Celeste sind ganz wirklich, standig in Bewegung und am Meckern, und ich werde nicht mude, sie gehen, einfach nur neben mir gehen zu sehen, wobei sie das Unbehagen, das auf ihren kleinen Schultern lastet, mit selbstsicherem Getue kaschieren. Im Gehen wischt Theophile die Speichelfaden, die aus meinem geschlossenen Mund rinnen, mit Papierservietten ab. Seine Geste ist verstohlen, zugleich zartlich und furchtsam, so als habe er ein Tier mit unvorhersehbaren Reaktionen vor sich. Sobald wir langsamer werden, legt Celeste ihre nackten Arme um meinen Kopf, bedeckt meine Stirn mit schallenden Kussen und sagt wieder und wieder: »Das ist mein Papa, das ist mein Papa«, wie einen Zauberspruch. Wir feiern Vatertag. Bis zu meinem Hirnschlag hatten wir nicht das Bedurfnis, dieses aufgezwungene Miteinander in unseren Gefuhlskalender einzutragen, aber jetzt verbringen wir diesen symbolischen Tag zusammen, wahrscheinlich um zu bezeugen, da? eine Andeutung, ein Schatten, ein Stuckchen Papa immer noch ein Papa ist. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Freude, sie ein paar Stunden lang leben, sich bewegen, lachen oder weinen zu sehen, und der Befurchtung, da? der Anblick dieses ganzen Leids, bei meinem eigenen angefangen, nicht gerade die ideale Unterhaltung fur einen zehnjahrigen Jungen und seine achtjahrige kleine Schwester ist, auch wenn wir in der Familie die weise Entscheidung getroffen haben, nichts zu verharmlosen.

Wir lassen uns im Beach Club nieder. So nenne ich eine Stelle in den Dunen, die der Sonne und dem Wind ausgesetzt ist und wo die Verwaltung die Freundlichkeit hatte, Tische, Stuhle und Sonnenschirme aufzustellen und sogar einige Butterblumen auszusaen, die zwischen dem Unkraut im Sand bluhen. In dieser Schleusenkammer am Rand des Strandes, zwischen dem Krankenhaus und dem wahren Leben, kann man traumen, eine gute Fee werde alle Rollstuhle in Strandsegler verwandeln. »Spielen wir was? Vielleicht Galgenmannchen?« fragt Theophile, und wenn mein Kommunikationssystem schlagfertige Antworten nicht ausschlosse, wurde ich ihm gern antworten, da? es mir schon reicht, den Gelahmten zu spielen.

Der scharfsinnigste Einfall wird stumpf und fallt durch, wenn es mehrere Minuten dauert, ihn vorzubringen. Wenn er dann endlich zur Sprache kommt, versteht man selbst nicht mehr recht, was einem so amusant daran vorkam, ehe man ihn muhsam Buchstabe fur Buchstabe diktiert hat. Ungelegen kommende Geistesblitze mussen also ausgespart werden. Das nimmt dem Gesprach seinen quecksilbrigen Schaum, die Bonmots, die man sich wie einen Ball abwechselnd zuwirft, und dieser erzwungene Mangel an Humor gehort fur mich zu den Nachteilen meines Zustands.

Na gut, einverstanden mit dem Galgenmannchen, dem Nationalsport der Siebtkla?ler. Ich finde ein Wort, ein weiteres, bleibe dann beim dritten stecken. Tatsachlich bin ich mit meinen Gedanken nicht richtig beim Spiel. Eine Welle von Kummer hat mich uberwaltigt. Theophile, mein Sohn, sitzt brav neben mir, sein Gesicht ist funfzig Zentimeter von meinem entfernt, und ich, sein Vater, habe nicht das simple Recht, mit der Hand uber sein dichtes Haar zu streichen, ihn in seinen flaumigen Nacken zu zwicken, seinen glatten, warmen kleinen Korper ganz fest zu umarmen. Was soll ich dazu sagen? Ist es ungeheuerlich, ungerecht, eine Sauerei oder entsetzlich? Plotzlich bringt es mich um. Tranen steigen auf, und meiner Kehle entringt sich ein krampfhaftes Rocheln, bei dem Theophile

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