Lage. Fast hoffnungslos. An diesem fast halte ich fest.«

Aber auch Schukow sah in den nachsten Tagen ein, da? es unmoglich war, das Bernsteinzimmer noch rechtzeitig nach Leningrad zu bringen. Die in drei Schichten arbeitenden Frauen im Katharinen-Palast von Puschkin, dem ehemaligen Zarskoje Selo, seit Peter dem Gro?en Sommersitz der Zaren, bekamen daher die Order, das kostbare Zimmer vor Zerstorung zu schutzen. Sie stellten gro?e Holztafeln als Splitterschutz vor den Bernsteinwanden auf und beklebten die gro?en, in der Sonne in allen Gelbtonen funkelnden Flachen mit Papier. Damit wollte man verhindern, da? Erschutterungen die Mosaiken sprengten und die Bernsteinstucke von den Paneelen platzten. Schlie?lich trugen die Frauen alle beweglichen Kunstschatze wie Busten aus Bernstein, einen gro?en Bernsteinsekretar, Tische aus Bernstein und zierliche Schrankchen zu den letzten Lastwagen, die von der Armee zum Transport von Lebensmitteln, Munition, Geschutzen, Z5-ment, Eisengeflechte und neuen Regimentern dringender gebraucht wurden als zur Rettung von Kunstschatzen.

«Ich habe auch Hunderttausende von Mannern, Frauen und

Kindern zu retten!«sagte Schukow einmal in jenen Tagen zu General Sinowjew, der bei einer Lagebesprechung die Aufgabe der Kunstwerke bedauerte.»Edelsteinbesetzte Tabakdosen konnen nicht schie?en! Jammern Sie nicht langer uber einen goldenen Stuhl, jammern Sie mehr uber die Menschen.«»Die Faschisten werden alles wegschleppen. Stehlen werden sie unersetzbare Gemalde, Skulpturen, Bucher. Ru?land wird, auch wenn wir den Krieg gewinnen, ein armes Land sein. «Sinowjew holte einen Zettel aus seiner Uniformtasche. Er war ein gro?er Kunstliebhaber, der stundenlang in einem Museum vor einem Rembrandt sitzen konnte oder in der Eremitage von Leningrad durch die zahllosen Raume wanderte. Einmal war er drei Tage lang hintereinander dort gewesen, um das Museum der wertvollsten Kunstschatze der Welt, nur vergleichbar mit dem Pariser Louvre, in seiner ganzen Pracht zu erleben, und war am Ende schier trunken von dem Gesehenen nach Hause gekommen.»Ich habe Informationen von unseren Spionen. Uberall, wo die Deutschen Stadte und Schlosser eroberten, ist gleich nach den kampfenden Truppen ein sogenanntes Sonderkommando am Ort, um alle Kunstgegenstande abzutransportieren. Die Deutschen haben bisher geraubt in 427 Museen, 1670 russischorthodoxen und 237 romischkatholischen Kirchen, 69 Kapellen, 532 Synagogen, 258 anderen kirchlichen Gebauden, 334 Hochschulen und 43 000 o-fentlichen Bibliotheken. Was dort alles weggeschleppt wurde, werden wir nie wiedersehen.«

«Flei?ige Spione, wirklich flei?ig«, sagte Schukow mit einem spottischen Unterton. Er nahm Sinowjew den Zettel aus der Hand, zerknullte ihn in seiner Faust und warf das Knauel dann unter den Kartentisch.»Und was melden Ihre flei?igen Spione uber die Truppenstarke der Deutschen, ihre Bewaffnung, ihre Ziele, ihren Nachschub, ihre Stimmung, ihre wirklichen Verluste?«

General Sinowjew schwieg. Wie recht hat er, der Marschall, dachte er. Man sollte ihn nicht weiter reizen. Immer enger wird die Umklammerung Leningrads, unser Widerstand ist heldenhaft, ja, das ist das richtige Wort, heldenhaft, aber die Deutschen rucken weiter vor, sind nicht aufzuhalten. In zehn oder vierzehn Tagen werden sie durch die Stra?en der Stadt marschieren, mit Fahnen und drohnender Musik, wie vor einem Jahr durch Paris. Und sie werden uberall plundern, die Kunst der ganzen Welt werden sie besitzen, den Louvre in Paris und die Eremitage, die Schatzkammer Ru?lands. Ich bin noch einer, der an Gott glaubt. Also, Gott im Himmel, la? es nicht zu! Schutze unser Leningrad, auch wenn es nach dem Mann genannt wurde, der sagte:»Religion ist Opium furs Volk. «Vergi? nicht, Herr, da? diese Stadt einmal Sankt Petersburg hie?. Eine heilige Stadt. Strecke deine Hand aus und halte die Deutschen auf. Schenk uns ein neues Wunder.

«Woran denken Sie, Witalij Bogdanowitsch?«ri? ihn Schu-kows Stimme in die Wirklichkeit zuruck.»Ihr Blick ist weit weg…«

«An ihre Worte denke ich, Genosse Marschall. «General S-nowjew beugte sich uber die gro?e Karte von Leningrad und Umgebung. Eine vorzugliche Karte. Jeder Bach war eingezeichnet, jeder Fabrikschornstein, jeder Tumpel, jeder schmale Waldweg. Und auch Zarskoje Selo, das heute Puschkin hie?, der Katharinen-Palast mit dem Bernsteinzimmer.»Nachschub ist wichtiger als ein Gemalde von Tintoretto.«

An diesem 12. September 1941 nun hielt die kleine Kolonne mit Unterleutnant Wechajew auf der glitschigen Waldstra?e westlich von Puschkin, und Lew Semjonowitsch stie? so wilde, unanstandige, ja schweinische Fluche aus, da? seine Rotarmisten ins Staunen kamen. Ein so junger Kerl und solche Ausdrucke! Wo hat man so etwas schon gehort? Nennt de gebrochene Hinterachse eine vertrocknete Hure, die der Satan fickt, und den unschuldigen Fahrer des Lastwagens, den Gefreiten Sliwka, beschimpft er als verblodeten Affen, der sich wohl wahrend der Fahrt selbst befriedigt. Welch eine Rede, Genossen! Aber was half's? Die Achse war gebrochen, der Wagen lag fast auf der linken Seite, keinen Ersatz hatte man bei sich, wer denkt denn daran, da? so ein eisernes Mistding brechen kann, und mit Tauen zusammenbinden konnte man es auch nicht, zum Haareraufen war es, und au?erdem wu?te niemand, wie es nun weiterging. Lie? man den Wagen einfach liegen und fuhr weiter, oder holte man Hilfe von der nachsten Militarwerkstatt? Neun Werst war sie entfernt, das bedeutete, da? es Stunden dauern wurde, ehe man eine neue Hinterachse bekam.

Wechajew entschied, sich erst einmal am Waldrand hinzusetzen, eine Scheibe nassen Brotes mit einem Aufstrich aus Zwiebeln und Lebermus zu essen, eine Papyrossa zu rauchen und dann erst zu entscheiden, was man tun sollte. Seine Soldaten, im geheimen froh uber diese Unterbrechung, denn keine Freude ist's, in einem engen Fahrerhaus stundenlang zu hocken und uber holprige Stra?en zu hupfen, bis einem jeder Sto? vom Hintern langs durch den Korper bis unter die Hirnschale fahrt, schwarmten aus, knopften ihre Hosenschlitze auf oder zogen die Hose ganz herunter und hockten sich an Baumen oder Buschen hin, um sich zu erleichtern.

Auch der Soldat Viktor Janissowitsch Solotwin, ein junges Burschchen, das sogar noch rot werden konnte, wenn die anderen rauhen Kerle schmatzend berichteten, wie und was sie mit ihrer Olga oder Warwa gemacht hatten, in der Scheune, im Stroh, hinter einer Heupuppe oder sogar — welch ein Schwein, dieser Nikita — auf der gro?en Hobelbank in der Schreinerwerkstatt seines Vaters, verspurte ein Drangen in den Darmen und ging tiefer als die anderen in den Wald hinein, eben weil er so schuchtern war und nicht gern sein nacktes Hinterteil zeigte.

Langsam, die Finger schon am Gurtelschlo?, suchte er einen guten Platz, moglichst hinter einem dichten Gebusch, als er plotzlich etwas sah, das nicht in diesen Wald gehorte.

Erde. Blanke Erde, wie sie bei einer Grabung ausgehoben wird. In einem Umkreis von etwa drei Metern lag sie uber den Waldboden verteilt, und sie war festgestampft und geebnet worden. So etwas konnte weder von einem Hasen noch von einem Fuchs stammen, auch Marder, Nerze oder Waschbaren verteilten nicht so korrekt die fur ihre Hohlen ausgeworfene Erde. Hier war von einem Menschen gegraben worden, fur

Viktor Janissowitsch war das ganz klar, aber nicht klar war ihm, warum man in einem einsamen Wald, dazu noch im verfilzten Dickicht, den Boden aufri?.

Mit einemmal verspurte er keinen Drang mehr, sich die Hose abzustreifen. Ein Gefuhl von Gefahr stieg in ihm auf. Er uberlegte, ob er zuruckrennen und Unterleutnant Wechajew alarmieren sollte, aber wenn es sich dann heraus stellte, da? nichts Ungewohnliches zu entdecken war, wurde man ihn nicht nur mit Spott ubergie?en, sondern Wechajew wurde auch noch seine ganze Wut wegen der gebrochenen Achse an ihm auslassen. Also schweig, mein Lieber, dachte Solot-win, sieh erst einmal selbst nach, ein Feigling bist du nicht, Krieg ist ja, aber die Deutschen sind noch viele Werst von hier entfernt… was also kann es sein?

Nein, ein Feigling war Viktor Janissowitsch nicht, nur hatte er bisher noch keine Gelegenheit gehabt, seinen Mut zu zeigen. Nicht einen deutschen Soldaten hatte er bislang erschossen, selbst gesehen hatte er noch keinen. Immer waren es nur Holzattrappen gewesen, sogenannte» Pappkameraden«, die unter seinen gutgezielten Schussen umfielen und ihm Belobigungen seiner Offiziere eingebracht hatten. Doch, seien wir ehrlich mit ihm, ein wenig Zittern in den Knochen und ein drehendes Gefuhl im Magen hatte er schon, wenn er daran dachte, einen richtigen Menschen durch ein blo?es Fingerkrummen aus dieser Welt schaffen zu mussen. Nur davor hatte er e- gentlich Angst, und deshalb wunschte er sich insgeheim — es auszusprechen war ja Feigheit und Verrat am Volk —, da? es bei seiner jetzigen Reinheit blieb. Sie kamen ja nur indirekt mit dem Feind in Beruhrung, denn ihre Aufgabe fuhrte sie immer dorthin, wo noch Ruhe war, von den Luftangriffen der Faschisten einmal abgesehen. Er gehorte zu einer Sondereinheit, die uberall dort auftauchte, wo man mit einer Eroberung durch die Deutschen rechnete, und die aus Klostern, Schlossern und Museen so viele Kunstschatze bergen sollte, wie es in der kurzen Zeit moglich war. Drei Offiziere, Kunstexperten, fuhren immer einen Tag voraus, um die wertvollsten Stucke auszusuchen und zu kennzeichnen.

Nun war das Ziel das Stadtchen Puschkin, das eigentlich nur aus dem Alexander-Palast und dem Katharinen-Palast, weiten Parkanlagen und Zierteichen mit Wasserspielen und Grotten bestand. Die Wohnhauser um diese Palaste waren uninteressant, und man hatte sie von den Deutschen uberrennen lassen konnen, wie diese

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