Hunderte andere kleine Stadte zuvor uberrannt hatten.

Wenn da nicht der Katharinen-Palast gewesen ware. Dieser herrliche Palast mit seinen Saulen und Marmorstatuen, den vergoldeten Zwiebelkuppeln seiner Schlo?kirche, den vergoldeten Balkongittern aus Schmiedeeisen, den von Bildhauern reich verzierten Fenstersimsen und den kunstvollen franzosischen Garten nach dem Vorbild des Parks von Versailles. Der Wert all dieser Kunstwerke, die sich hier angesammelt hatten, war mit Zahlen kaum noch zu benennen. Und ein Kunstwerk war darunter, das einzigartig auf der Welt war, das nie wieder hergestellt werden konnte: ein Saal in den Ma?en von 11,50 Meter mal 10,55 Meter und einer Deckenhohe von sechs Metern mit 22 wunderschonen Vertafelungen, 150 Platten, Girlanden, Figuren und Wappen, und das alles aus einem» Stein «in den Farben vom hellsten Gold bis zum funkelnden Dunkelbraun: das Bernsteinzimmer. Uber zweihundert Jahre wurde dieser Saal im Katharinen-Palast, geliebt von allen Zarinnen und Zaren, immer wieder erganzt und ausgeschmuckt mit neuen Bernsteinwerken, Gemalden und Deckenmalereien, Putten und auch vielfarbigen Jaspis-Mosaiken in Bernsteinrahmen, die ein Werk des Hofarchitekten Rastrelli, des Lieblingsbaumeisters der Zarin Elisabeth, waren.

Das Bernsteinzimmer.

Ein ganzer Saal aus dem» Sonnenstein«.

Wer ihn einmal gesehen hat, wird es nie mehr vergessen. Die Schonheit hatte sich in ihn eingebrannt, in Tausenden von Mosaiken und glitzernden Steinschnitzereien brach sich das Licht.

Die drei Kunstoffiziere der Roten Armee waren vor zwei Tagen in Puschkin eingetroffen. In standigem Telefonkontakt mit General Sinowjew, berichteten sie ihm, da? deutsche Bomber die

Vorstadte von Leningrad und auch Puschkin bombardierten, aber das wu?te Sinowjew langst.

«Ich will nicht wissen, was an der Front passiert«, bellte er ins Telefon und unterstrich seine Erregung mit Faustschlagen auf den Tisch, die man in Puschkin deutlich horte.»Konnt ihr das Bernsteinzimmer retten? Das allein sollt ihr mir melden. Schaffen wir es?«

«Kaum«, sagte der alteste der Offiziere, ein Major, der als Kunsthistoriker am Russkij Muzei, dem Russischen Nationalmuseum, arbeitete und dem vor allem die Sale XXII., I., XXI. und III. unterstanden, wo die schonsten und wertvollsten Gemalde, Skulpturen und Mobel dieses Museums ausgestellt waren.»Wir konnen gerade noch die Wande verschalen und vor Beschadigungen schutzen. Damit hatte man bereits begonnen, als wir eintrafen.«

«Was hindert Sie, das Zimmer auszubauen?«rief Sinowjew in hochster Erregung.

«Die Zeit, Genosse General.«

«Noch sind die Deutschen nicht in Puschkin!«

«Aber sie werden in spatestens drei bis vier Tagen hier sein. In drei Tagen ist der Ausbau nicht zu schaffen.«

«Wir haben Menschen genug!«schrie Sinowjew unbeherrscht. Das Bernsteinzimmer in deutscher Hand — dieser Gedanke pre?te ihm das Herz zusammen.»Holen Sie an Arbeitern heran, was Sie kriegen konnen.«

«Alle noch arbeitsfahigen Manner und Frauen sind zu Schanzarbeiten befohlen. Drei Verteidigungsgurtel sollen entstehen.«

«Das wei? ich doch!«General Sinowjew fuhr sich mit der Hand uber Stirn und Augen. Das letzte Gesprach mit General Schukow war noch frisch in seiner Erinnerung.»Holen Sie einfach Frauen von der Stra?e und lassen Sie sie zum Bernsteinzimmer bringen! Es mu? gerettet werden! Verstehen Sie mich: Es mu? — «

«Au?erdem brauche ich achtzehn bis zwanzig Lastwagen…«Sinowjew holte tief Atem. Zwanzig Lastwagen.»Versagt Ihr Gehirn?«sagte er, etwas leiser geworden.»Sie wissen

doch…«

«Um das Zimmer abzutransportieren, brauche ich zwanzig Wagen, Genosse General. Die Wahrheit ist's nun mal. Sollten wir die Mosaike einzeln in Sackchen wegbringen, die Girlanden zersagen, die Kopfe herausschlagen, die Gemalde aus den Rahmen schneiden, die Deckenmalereien zerstuckeln? Die Vertafelungen mussen als Ganzes herausgenommen werden, die Turen, die Putten, die Girlanden, die Masken… sonst konnen wir das Bernsteinzimmer gleich in die Luft sprengen.«

«Ich werde sehen, was mir moglich ist«, sagte General Sinowjew noch leiser. Seine Stimme war schleppend geworden, schwer die Zunge vor Hilflosigkeit und Kummer. Er stutzte den Kopf in die rechte Hand, wahrend die linke den Telefonhorer hielt. Seine Gardedivision grub sich in die Erde, trankte Meter um Meter der heiligen russischen Erde mit Blut, aber der Druck der deutschen Truppen war zu stark. Allein im Raume Puschkin und Peterhof stie?en das XXVIII. Armeekorps, das XLI. Panzer-Korps, die 96. und 121. Infanterie-Division, das L. Armeekorps, Teile der 16. und 18. Armee der Heeresgruppe Nord unter dem Befehl von Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, die 1. Panzerdivision und vor allem die SS-Polizei-Division, gefurchtet uberall, wo sie eingesetzt wurde, unaufhaltsam vor. Funfzehn Divisionen der Roten Armee standen neunundzwanzig Divisionen der Deutschen gegenuber. Zum ersten Mal erlebten sie die Ubermacht der Faschisten. Leningrad — fur Hitler ein Symbol des Sieges.

Und im Mittelabschnitt der Front rollte die deutsche Lawine bereits auf Moskau zu.

General Sinowjew schlo? einen Moment die Augen.

Es darf nicht sein, schrie es in ihm. Nein, es darf einfach nicht sein! Uber 500 000 Kinder leben noch in der Stadt, fur 980 000 Menschen hatte man Luftschutzraume gebaut, 672 000 Menschen konnten sich in schnell ausgehobenen Splittergraben verkriechen, aber doppelt so viele Einwohner warteten in Leningrad auf ein Wunder… auf das Wunder, nicht in deutsche Hand zu fallen. Und auch an Generalmajor F. S. Iwanow erinnerte sich Sinowjew jetzt. Als Schukow ihn fragen lie?, wie die Frontlinie um Leningrad verlaufen wurde, hatte Iwanow verzweifelt geantwortet:»Ich wei? nicht; wo die Front verlauft. Ich wei? uberhaupt gar nichts!«Sofort wurde er von Schukow seines Kommandos enthoben. Der Marschall kannte kein Erbarmen mehr, er war ein Offizier der hartesten Art, ein Mensch, der Unmogliches moglich machen wollte: Leningrad, eine seit ihrer Grundung im Mai 1703 durch Peter den Gro?en unbesiegte Stadt, sollte unbesiegt bleiben.

Ein Vorbild fur das riesige russische Reich.

Sinowjew atmete ein paar Mal tief ein und aus, seufzend und doch befreiend.

«Sie bekommen Lastwagen, Genosse Major, so viel ich entbehren kann«, sagte er und wischte sich wieder uber de Augen. Wenn Schukow das erfahrt, wird es mir ergehen wie Iwanow. In Schimpf und Schande werde ich weggejagt.»Sie sind morgen, spatestens ubermorgen bei Ihnen in Puschkin.«»Wieviel Wagen, Genosse General?«

«Ich wei? es nicht. Es gibt da einen Spezialtrupp, den ich schon ofter eingesetzt habe. Ein paar Soldaten, die schon Millionenwerte gerettet haben. Verdammt, bauen Sie das Bernsteinzimmer aus!«

Er legte den Horer auf und blieb an seinem Tisch sitzen, faltete die Hande und stutzte das Kinn darauf. Wir kommen zu spat, dachte er voll wurgender Traurigkeit. Die letzten Berichte von der Front lauteten: Der Ring der Deutschen wird immer enger. Die» Perlenkette«, die Vororte Leningrads mit ihren Schlossern in Petrodworez, Puschkin und Pawlowsk, mit einer der reichsten Bibliotheken Ru?lands, wurden von den deutschen Divisionen uberrannt werden, und eine der schonsten Schatzkammern der Welt war fur immer verloren.

Was kann ich tun? Himmel, hilf mir! Was kann ich tun?

Es waren dann zehn Lastwagen, die Sinowjew, ohne die Aktion an Schukow zu melden, auf den Weg nach Puschkin schickte.»Fahrt Tag und Nacht!«hatte er zu dem strammen Unterleutnant Wechajew gesagt.»Jede Stunde ist wichtig! Wenn ihr das Bernsteinzimmer rettet, wird Ru?land euch einmal die Helden von Puschkin nennen. Fahrt… fahrt… fahrt!«Und nun hatte einer der Wagen einen Achsenbruch. In einem Wald lagen sie am Wegrand herum, neunzehn Rotarmisten und ein gotterbarmlich fluchender Lew Semjonowitsch; und der schuchterne Soldat Viktor Janissowitsch Solotwin, der eigentlich seinen Darm hinter einem Gebusch entleeren wollte, entdeckte verstreuten, frisch ausgegrabenen Waldboden. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd wie ein Reh, mit angespanntem Gehor und klopfendem Herzen schlich Solotwin durch den Wald, von Baum zu Baum Deckung suchend, bereit, sofort zu schreien, wenn er angegriffen werden sollte.

Was blieb ihm schon anderes ubrig, als zu schreien! Seine Maschinenpistole lag im funften Lastwagen, eine Pistole trug nur Wechajew an den Gurtel geschnallt. Er, Solotwin, hatte jetzt nur ein Taschenmesser bei sich, ein kleines, aufklappbares Ding, mit dem man ein Stuck Wurst oder Brot abschneiden konnte, aber auch dies nur in muhsamer Sabelei, denn stumpf war die kurze Klinge, schon mindestens zwanzig Jahre alt. Sein Vater Awtonon Sergejewitsch hatte es ihm geschenkt, als er die Uniform anziehen mu?te, um die deutschen Banditen, wie der Vater die Aggressoren nannte, aufzuhalten.»Ein Messer ist immer gut«, hatte Awtonon zu ihm gesagt.»Schneiden

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