«Ich komme aus Puschkin, Genossen.«

«In einer deutschen Uniform?! Soll man dich anspucken, du Verraterin?! Wir fahren nach Puschkin, und sie kommt von dort und vergrabt sich im Wald. Spionin! Ekelhafte Spionin!«»Einen Auftrag habe ich! Bringt mich zu eurem General. Schnell! In zwei Tagen hat der Deutsche Puschkin besetzt. Ihre Artillerie schie?t schon in die Stadt. Alles kann ich erklaren. Da? der Rotarmist — «sie zeigte auf Solotwin —»mich entdeckt hat, war nur ein Zufall. Ich mu? zu eurem General!«»Was du mu?t, bestimme ich!«Wechajews Stimme bekam jetzt einen metallischen Klang.»Umdrehen! Kein Wort weiter! Fur mich ist ein Spion kein Mensch mehr — «

General Witalij Bogdanowitsch Sinowjew hatte wieder mit Puschkin telefoniert. Der Major und Kunstexperte berichtete, da? die Deutschen bereits in die Stadt schossen, da? ihre Flugzeuge den Katharinen-Palast bombardiert und schwer beschadigt hatten und da? es vollig ausgeschlossen sei, jetzt noch das Bernsteinzimmer auszubauen und zu retten.

«Wir werden heute noch Puschkin verlassen mussen«, sagte der Major gepre?t. Im Telefon horte Sinowjew die Detonationen der deutschen Granaten. Von der Front hatte er keine Meldung bekommen, kopflos schien man dort zu sein.»Die Faschisten rucken unaufhaltsam vor. Eine SS-Division soll direkt auf Puschkin vorsto?en.«

«Das wei? ich alles!«Sinowjew streifte mit einem Blick die Landkarte, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet war. Er hatte sich in einem kleinen Landschlo?, das zur Zarenzeit einem reichen Bojaren gehort hatte, einem Fursten Wladimir Nikolajewitsch Tschepikow, sein Hauptquartier eingerichtet und wu?te, da? er das ganze Gebiet in spatestens drei Tagen raumen mu?te. Der Stab packte bereits. General Popow, der mit schnell zusammengezogenen zwolf Divisionen die Stadt verteidigen sollte, erwartete ihn in Leningrad. Von Schukow kam die Nachricht, unverzuglich abzuziehen: Fur die Verteidigung der Stadt brauchte man jetzt jeden Mann. Ein geordneter Ruckzug — wie triumphal ware er, wenn im Tro? der Division auf zehn Lastwagen das Bernsteinzimmer nach Leningrad mitfuhr und so gerettet wurde.»Eine Kolonne ist unterwegs, Genosse Major.«

«Zu spat, Genosse General.«

«Es ist nie zu spat!«schrie Sinowjew. Fast wie ein Aufschrei klang es.»Und wenn wir Puschkin funf Minuten vor dem Einmarsch der Deutschen verlassen!«

«Wir schaffen es nicht. Ein fachgerechter Ausbau dauert mindestens drei oder vier Tage. Diese Zeit haben wir nicht mehr. In drei Stunden verlassen wir den Katharinen-Palast. Das Herz blutet mir, Genosse General, aber damit kann ich die Deutschen nicht aufhalten.«

Sinowjew legte auf. Sein Adjutant Kowaljow kam ins Zimmer und meldete Besuch an.

«Ein Madchen«, sagte er und schuttelte dabei den Kopf.»Tragt einen deutschen Militarmantel und die Tracht einer Rote-Kreuz-Schwester. Wurde im Wald in einer Erdhohle gefunden, spricht russisch und verlangt, den Genossen General zu sprechen.«

«Eine Spionin, Igor Iwanowitsch?«General Sinowjew druckte das Kinn an seinen Uniformkragen.»Warum bringt man sie hierher? Wo ist sie?«

«Vor der Tur wartet sie.«

«Erschie?en!«

«Sie will vorher Sie sprechen, Genosse General. Sie wei?, was sie erwartet. Aber — «

«Lassen Sie sie eintreten, Igor Iwanowitsch.«

Drau?en im Wald, kurz bevor Unterleutnant Wechajew seine Pistole abdrucken wollte und der Schu? den Kopf des Madchens zertrummert hatte, war etwas Unerwartetes geschehen. Die Spionin sagte namlich:»Ich komme vom Bernsteinzimmer«, und dieser kurze Satz veranderte die Situation vollkommen. Lew Semjonowitsch lie? die Pistole sinken, schluckte mehrmals, als habe sich seine Kehle verengt. Dann schielte er zu Solotwin und den anderen Rotarmisten, die einen Kreis um sie bildeten und auf die Hinrichtung warteten, und er beschlo?, sich keine Blo?e zu geben und vor allem kein Erbarmen zu zeigen.

«Was macht's!«sagte er rauh.»Ob jetzt oder in ein paar Stunden? Erschossen wirst du doch! Viktor Janissowitsch und Jewgenij Nikititsch, bringt sie zum Kommandeur. «Sogar einen Lastwagen stellte er dafur zur Verfugung, selbst auf die Gefahr hin, von General Sinowjew deswegen beschimpft zu werden. Bernsteinzimmer, das war ein Zauberwort. Wenn es tatsachlich einen Zusammenhang zwischen dem Bernsteinzimmer und der Spionin gab, mu?te Sinowjew sich das anhoren und dann selbst entscheiden, was mit ihr geschah.

«Wenn du versuchst, zu fliehen…«setzte er zu einer Warnung an, aber das Madchen schuttelte nur den Kopf. Der Kopfri? hatte aufgehort zu bluten, eine rote Kruste zog sich uber die Stirn.

«Warum soll ich fluchten, Genosse?«

«Nenn mich nicht Genosse, du Hure!«brullte Wechajew auf.»Was ein Genosse ist, wei?t du das uberhaupt?! Eine Ehre ist es! Besudle nicht meine Ehre…«

Noch eine kraftige Ohrfeige gab er ihr, bei der ihr Kopf so zur Seite flog, da? Solotwin befurchtete, er konne vom Hals gerissen werden. Mit diesem Schlag hatte Wechajew jedoch sein Gesicht gewahrt. Er drehte sich um, stapfte zu dem schrag liegenden Wagen mit der gebrochenen Achse und entschlo? sich, nach Puschkin weiterzufahren. Nun waren es nur noch acht Lastwagen, die man nicht mehr brauchte. Aber das wu?te ja Unterleutnant Wechajew nicht.

Er lie? die Motoren anspringen, setzte sich in die Kabine des ersten Wagens und lie? durch einen langen Hupton die Kolonne anfahren.

Was er auch nicht wu?te, war die peinliche Tatsache, da? er den vorruckenden deutschen Truppen direkt in die Arme fuhr. Die Tur von Sinowjews Arbeitszimmer offnete sich also, der Adjutant Kowaljow winkte, und das Madchen kam uber die

Schwelle. Noch immer sah sie aus, wie Wechajew sie losgeschickt hatte. Sie hatte weder sich noch ihre Kleidung saubern konnen und starrte vor Dreck.

Sinowjew rumpfte die Nase und deutete mit einer Handbewegung an, sie solle an der Tur stehenbleiben. Er meinte, einen Gestank nach Schimmel und Verwesung zu riechen, aber sicherlich war das Einbildung, was ihn beim Anblick dieser Person nicht weiter wunderte. Er musterte den deutschen Militarmantel, das Schwesternkleid, die fettigen Zottelhaare, das Gesicht mit den hohen Backenknochen, die Beine in den dicken Strumpfen und die derben Schuhe.

Wie mag sie aussehen, wenn man sie gewaschen hat, dachte er. Befreit von dieser schrecklichen Kleidung, frisiert und vielleicht sogar etwas geschminkt? Vorstellen konnte man sich, da? unter dem Dreck eine schone Frau hervorkam.

«Was ist nun?«fragte er ziemlich abweisend.»Will man ein Gestandnis ablegen? Du verstehst russisch?«

«Meine Muttersprache ist es. «Das Madchen sah sich nach Kowaljow um.»Kann ich den Mantel ausziehen? Warm ist es hier. Habe ihn nur getragen, weil es in der Hohle kalt war.«

«Du bist eine Kollaborateurin, stimmt's?!«fragte Sinowjew eisig.»Wolltest hinuber zu den Faschisten!«

«Uberrollen lassen wollte ich mich. In zwei Tagen sind die Deutschen hier…«

«Oh, sie ist gut informiert. «Der General hatte sich an seinen Adjutanten gewandt.»Uberrollt wollte sie werden. Auch eine Art des Uberlaufens. «Seine Augen suchten wieder das Gesicht des Madchens.»Warum bist du hier? Hoffst du, da? ich dich begnadige? Ein Irrtum ist das, Verraterin.«

«Ich hei?e Jana Petrowna Rogowskaja — «

«Angenommen oder wirklich?«

«Wirklich. Mein Vater war Pjotr Borisowitsch Rogowskij.«

Durch General Sinowjew fuhr ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zucken. Er beugte sich uber den Tisch und musterte sie erneut von oben bis unten. Kaum glaublich, dachte er. Eine unverschamte Luge mu? das sein.

«Rogowskij? Der Experte fur die Malerei des 19. Jahrhunderts in der Eremitage?«

«Ja, mein Vater ist es gewesen. «Sie zog den deutschen Militarmantel aus, lie? ihn zu Boden fallen und stand nun in der deutschen Schwesterntracht vor Sinowjew. Befreit von dem schmutzigen, unformigen Mantel sah sie ganz anders aus, zwar voller Flecken von Erde, aber sie hatte eine gute Figur mit schlanken Huften und einer deutlich erkennbaren Wolbung unter dem Kleid und Schurzenlatz.»Vor drei Monaten ist er gestorben, an einem Herzanfall. So aufgeregt hatte ihn der Uberfall der Deutschen auf unser Land.«

General Sinowjew faltete die Hande uber der Karte von Leningrad und Umgebung. Naturlich kannte er Rogowskij, immerhin hatte er den bekannten Experten dreimal gesehen und g5-sprochen. Einmal als er andachtig vor einem Bild von Tizian sa?, das zweite Mal im Saal der Impressionisten und zum letzten Mal vor einem

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