na sagen wir — Spionage aufgewirbelt hat. Ihr Herr Vater erkannte rechtzeitig den wahren Grund ihrer Anwesenheit, und nur mit List entging sie den Schergen. Jetzt reist sie ins Kursachsische und dann weiter nach Thuringen.«

«Aber warum verhaftet man sie dann nicht?«fragte Kummer ein wenig argwohnisch.

«Sie hat durch den franzosischen Gesandten in Dresden einen >lais-sez passer< erwirkt, der sie fur Sachsen sozusagen fangunmoglich macht!«

Dem Apotheker stand fur einen Augenblick der Atem still, indem er in die dunkle Ecke starrte, wo er die Umrisse der fulligen Gestalt schattenhaft bemerkte.

«Und Sie, Herr von Seditz?«

«Ich bin ihr Schatten. Ich reise mit der Extrapost voraus, um sie in Thuringen in Empfang zu nehmen. Den Beweis haben wir erst, wenn sie in wenigen Tagen ohne Papiere uber die Grenze zu kommen versucht.«

Er legte den Finger auf die Lippen und schwieg.

Das Rattern des Wagens und das knarrende Schwanken waren die einzigen Gerausche in der Dunkelheit, bis die Lichter eines Gasthauses um eine Wegbiegung erschienen.

«Frankenberg«, sagte Seditz und reckte seine gro?e, kraftige Gestalt.

«Ja — Frankenberg«, sagte auch Otto Heinrich Kummer, und seine Stimme klang ein wenig traurig und belegt. Er schaute aus dem Fenster dem naher kommenden Licht entgegen, zog seine Halsbinde gerade und nestelte aus dem kleinen Gepacknetz eine kleine Rei-setasche hervor. Er offnete sie, entnahm ihr ein kleines Paket und steckte dies in die Tasche seines Reisemantels, den er gefaltet uber seine Knie legte.

Auch Frau von Colombique wurde munter und schaute unruhig aus dem Fenster, als die Kutsche mit einem harten Ruck vor der hellerleuchteten Ture des Gasthofes hielt und der Wirt mit seinem runden Kappchen an den Wagenschlag trat.

«Willkommen in Frankenberg«, sagte er und ri? die Tur auf.»Reisen die Herrschaften weiter?«

«Zum Teil«, antwortete Herr von Seditz.»Wann geht die nachste Post?«

«Morgen um funf in der Fruhe«, beeilte sich der Wirt zu sagen.»Es sei denn, Sie nehmen die Extrapost! Kommt in der Nacht an. So gegen zwolf.«

«Die nehme ich«, sagte Seditz, und auch die Dame nickte zustimmend.

Dann stiegen sie aus, wahrend die Knechte schon die Pferde abschirrten und die Gepackstucke abschnallten, eine muhevolle Arbeit, denn Frau von Colombique kam mit dem Zahlen ihrer Koffer nicht zum Ende und vermi?te laufend Stucke, die dann nach wenigen Minuten vom Dach der Kutsche gehoben wurden.

«Sie werden sicherlich erwartet«, sagte Seditz zu Otto Heinrich Kummer, der sich mehrmals umschaute.»Leben Sie wohl, junger Freund. Ich habe Ihren Herrn Vater schatzengelernt und wurde mich fur Sie freuen, wenn Sie einmal so wurden wie er. Meine besten Wunsche sind bei Ihnen. Und wenn Sie einmal einen Freund brauchen, so schreiben Sie an mich nach Dresden.«

Er druckte dem verwunderten Apotheker die Hand und wandte sich dann ab, dem Wirte und der Frau von Colombique in die Wirtschaft zu folgen.

Kopfschuttelnd sah ihm Otto Heinrich Kummer nach, nahm seinen Koffer und seine Bundel auf, ging um den Gasthof herum auf die Stra?e, die nach Frankenberg hineinfuhrte, und sah sich dann wieder wartend um, ob niemand gekommen sei, ihn nach der lan-gen Fahrt abzuholen.

Aber die Stra?e war leer, kein Mensch war zu sehen — nur in der Ferne verklang das Rollen eines Wagens.

Mit einem neuerlichen Kopfschutteln und einem resignierenden Achselzucken nahm der Apotheker seine Sachen auf den Rucken, klemmte den Stock in den Henkel des Koffers und schritt dann mit langen Schritten die Stra?e entlang nach Frankenberg hinein, der Zukunft, dem Ungewissen, dem Schicksal entgegen.

Am Fenster des Gasthauses verfolgte ihn Herr von Seditz mit einem langen, lachelnden Blick.

«Armer Junge«, sagte er leise vor sich hin.»Du bist alles andere als ein Apotheker. Zu zart, zu beseelt, zu — dichterisch. Auch ich war einst wie du — na — wirst deinen Weg schon gehen.«

Otto Heinrich Kummer trat unterdessen in den Schein der ersten Hauser Frankenbergs ein und fragte einen Burger nach der Apotheke. Zwei Stra?en weiter auf dem kleinen Markt mit dem winzigen Brunnen blieb er vor einem spitzgiebeligen Haus stehen, dessen Dach mit dem Nachthimmel verschmolz, setzte sein Gepack ab und betrachtete lange seine neue Heimat.

Die Fensterladen waren geschlossen, die Malerei des Balkenschnitzwerkes leicht verwittert, und die breite eisenbeschlagene Tur sah mehr nach dem Eingang zu einer Schmiede als zu einer Apotheke aus.

Sinnend trat er ein paar Schritte auf den stillen Markt zuruck, umfa?te mit einem langen Blick noch einmal das ganze, dunkle, gro?e, spitze und schon verzierte Haus, dann setzte er sein Gepack vor die Tur, zog an der laut bimmelnden Eisenklingel und wartete, bis er tappende Schritte die Stiege im Hause hinuntergehen horte. Und er schalt sich einen Schwachling weil er spurte, da? sein Herz plotzlich schneller und weher schlug.

Ein baumlanger, hagerer, verschlafener, griesgramiger Geselle offnete spaltbreit die Tur.

«Wer da?«murmelte er und schien wenig Lust, die Tur ganz zu offnen.

«Otto Heinrich Kummer«, sagte der Riesige laut.

«Wer?«

«Otto Heinrich Kummer aus Dresden«, wiederholte der Wartende, denn es schien, als erwecke sein Name keinerlei Erstaunen, Freude oder gar Verstehen.»Ich bin der neue Apothekergeselle!«

«Himmel — in der Nacht!«

Die schwere Tur flog auf, und Otto Heinrich sah eine gespenstige Gestalt in einem uberlangen Nachthemd.

«Lieber Kollege — so spat hatte ich Sie nicht erwartet. Wenn das der Alte merkt, gibt es gleich zur Einfuhrung einen Veitstanz! Kommen Sie schnell und leis hinein, hinauf, ins Bett, und ruhren Sie sich nicht bis morgen.«

Damit nahm der Riese die Gepacke wie eine Feder auf die Schulter, schlich die Stiege hinauf und vermied es krampfhaft, da? die Treppenstufen knarrten.

Verwundert uber diesen Empfang, folgte ihm Otto Heinrich, erhielt einen bosen Blick, weil er bei einem Fehltritt auf der unbeleuchteten Treppe Larm schlug, und trat dann in ein kleines Zimmer unter dem Dach ein, in dem neben zwei Betten nichts stand als ein Tisch, zwei Stuhle und ein Regal mit Haken fur die Kleidung.

Erst in der Kammer entzundete der Riese eine Kerze, warf das Gepack auf das zweite, unbenutzte Bett, kratzte sich den Schadel, sah den Neuangekommenen an und sagte dann:

«Mein Name ist Bendler. Ich bin der erste Provisor.«

Dann, als erkenne er erst die Lage des Kollegen aus Dresden, ruckte er ein Brot und etwas Kase auf den Tisch, lud mit einer Handbewegung zum Essen ein und meinte:

«Wundern Sie sich nicht, Kollege — Sie sind nicht mehr in der Dresdner Hofapotheke, sondern beim Apotheker Knackfu? in Frankenberg im Erzgebirge! Wenn Sie nicht wissen, was das hei?t, so werden Sie das in spatestens einer Woche genau wissen! Sie durfen sich nicht wundern, Sie durfen nicht klagen, noch weniger etwas erwarten — Sie durfen nur an das Vergangliche allen Fleisches denken, das ist das einzige, was Sie in Zukunft obenhalten kann! — So, und jetzt essen Sie, legen sich hin und schlafen. Wenn die Sonne scheint, werden Sie dem Meister vorgefuhrt. Er wird Sie zwar nicht fressen, aber anbrullen bestimmt!«

Damit loschte er die Kerze aus, ohne Rucksicht, ob Otto Heinrich mit dem Essen zu Ende war, und walzte sich mit einem Stohnen auf das Bett, das sich fur seine Lange als viel zu kurz erwies, so da? er stets krumm lag. Ein tiefes, gleichma?iges Atmen lie? nach kurzer Zeit erkennen, da? der Riese Bendler eingeschlafen war.

Otto Heinrich Kummer sa? noch lange im Dunkeln an dem Tisch und schaute durch das Lukenfenster hinauf in den fahlen Nachthimmel.

Frankenberg, dachte er.

Jetzt bin ich in Frankenberg.

In der Einsamkeit.

In der Fremde.

In der Verbannung.

Und dort, weit weg, hinter den Bergen und Waldern, viele Tagesreisen durch Schluchten und Dorfer liegt Dresden, das sonnige, herrliche, machtige, konigliche Dresden.

Die Residenz des Konigs.

Das Schlo?. Der Traum des Zwingers.

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