Otto Heinrich dehnte sich in seinem Bett, breitete die Arme weit aus und blickte sich zum erstenmal mit Bewu?tsein in seiner neuen Heimat um.

Die Karglichkeit seiner Umgebung kam ihm erst bei dem grausamen Tageslicht voll zum Erkennen, und das Gefuhl trotz des neuen Freundes nun erst richtig verlassen zu sein, einsam mit all sei-nem Leid und der Sehnsucht nach Licht und Freiheit, druckte ihm in der Kehle, da? er tief schlucken mu?te und schnell aufsprang, um die drangenden Tranen nicht hervorquellen zu lassen.

Von drau?en drang das Schnaufen Bendlers in die Kammer, der in seiner Waschschussel wie ein kleiner Junge prustete.

Otto Heinrich mu?te lacheln.

Sein Kamerad verstand das Leben — er kapselte sich gegen alles ab und war nur der wirkliche Mensch, wenn er in der Nacht in den Himmel starrte und die Gro?e des Alls sich vermischte mit der Einsamkeit seines hei?en Herzens.

Langsam zog er sich an, wahlte aus dem Koffer eine neue Halsbinde und eine frischgebugelte Hose, die ihm die Mutter als Sonntagsstaat mitgegeben hatte, und trat dann hinaus in den Flur, wo der Riese sich an einem Rollhandtuch abtrocknete und neues Wasser in die Schussel geschuttet hatte.

«Guten Morgen, Kollege!«begru?te er Otto Heinrich mit einer wohltuenden Frohlichkeit.»Hinein mit dem Kopf ins kalte Wasser — ein Apotheker mu? kuhl denken und seine Sinne nicht erregen!«

Er warf dem Freunde einen gro?en Waschlappen zu, schrubbte sich selbst mit einer Riesenburste die blitzenden Zahne und schickte sich dann an, seine Halsbinde unter viel Geschnaufe zu winden. Lachend half ihm Otto Heinrich aus dieser morgendlichen Qual, was Bendler damit vergalt, da? er ein gro?es Schwarzbrot auf den Tisch warf und einen Klumpen Butter dazu.

«Wohlan, mein Freund, la?t uns speisen!«rief er und knallte den einen Stuhl an den Tisch.»Unten bei dem alten Geizkragen gibt es zum Kaffee nur zwei dunne Honigschnitten — nebenbei vom schlechtesten Abfallhonig — und, wenn es hoch kommt, eine runde, moglichst kleine Semmel. Da hei?t es vorher in der Stille essen und in der Sonne des Herrn den Kaffee loben!«

Mit einem gro?en Messer — bei Willi Bendler schien alles riesenhaft

— sabelte er einen machtigen Kanten von dem Brot und legte die Butter in Scheiben darauf. Lachelnd sah ihm Otto Heinrich zu, setzte sich aber doch nach dem Waschen zu ihm und a? einige Schnit-ten des wurzigen Gebackes.

«So«, sagte nach einer geraumen Zeit der Riese,»jetzt gehen wir hinunter. Wenn der Knackfu? dich anbrullt, bleibe hoflich und bis zu einem gewissen Grade unterwurfig — er kann nichts mehr hassen als eine eigene Meinung. Die Meinung macht bei ihm der Herrgott und der Staat — na ja, du kennst sie ja, die typischen Spie?er!«

Noch einmal burstete sich Otto Heinrich schnell uber den Rock, nahm das kleine Paket, das er in der Kutsche von der Reisetasche in den Mantel gesteckt, in die Hand und folgte dem Freunde die steile Treppe hinunter, die sie durch einen Nebenflur verlie?en. Auf ihm kamen sie in eine schone, holzgeschnitzte, mit Spiegeln verzierte Halle, deren gewundene Treppe mit dicken, roten Teppichen belegt war. An den Wanden hingen handgetriebene Tranleuchter, wertvolle Gobelins oder standen alte, zeitgeschwarzte, geschnitzte Mobel und Truhen, deren Wert nur ein Kenner abzuschatzen verstand.

Vor einer Tur am Fu?e der Treppe hielt Bendler an, rausperte sich, warf einen langen Blick auf Otto Heinrich und klopfte dann mit seinen dicken Fingerknocheln an. Es klang wie ein dumpfes Drohnen durch die stille Halle.

Aus dem Kamin antwortete ein Knurren.

«Das hei?t: bitte«, flusterte der Riese und ri? die Tur auf. Aber kaum hatte er den Griff niedergedruckt, als ihm schon eine herrische, harte Stimme entgegenschrie:

«Wie oft soll ich Ihnen sagen, da? meine Tur keine Pauke ist?! Konnen Sie nicht leise klopfen?«

«Guten Morgen, Herr Knackfu?«, antwortete Bendler vergnugt.»Wem Gott eine kraftige Gestalt gibt, dem schenkt er auch ein kraftiges Klopfen. «Er schob den zogernden Otto Heinrich ins Zimmer und postierte ihn vor den herumfahrenden, erstaunten, im ersten Augenblick verblufften Apotheker.

Herr Knackfu? mochte Ende der Funfzig zahlen. Seine mittelgro?e Gestalt war hager, aber nicht dunn, sein Gesicht knochern, ohne unschon zu wirken, aber die Augen unter der hohen Stirn und den sparlichen Haaren waren dunkel und stechend, der Mund schmal und wie verkrampft, wahrend die Finger unruhig auf der wei?en Tischdecke hin und her fuhren.

Er trug einen mandelfarbenen Morgenrock mit kecken Verschnurungen, helle, graue Beinkleider mit Lackschuhen und ein Spitzenhemd, das in dieser morgendlichen Kuhle durch einen leichten Seidenschal verdeckt wurde. Eine aus Porzellan kunstvoll geformte Pfeife lag in einem silbernen Pfeifenstander, daneben eine Tabaksdose aus schwarzem, geschnitztem Holz und ein aus Kupfer getriebenes Gluhbecken mit kleinen, leicht qualmenden Kohlen darin. Das Geschirr aus gemaltem Porzellan war schon zuruckgeschoben, der Brotkorb abraumbereit am Ende des Tisches, wahrend die Kanne mit dem Kaffee noch neben der Pfeife stand.

Mit flackernden Augen blickte Herr Knackfu? von dem einen zum anderen, schob dann plotzlich mit einer hastigen Bewegung den Stuhl zuruck und sprang auf, wahrend sich sein etwas gelbes Gesicht in dunne Falten legte.

Er mu? gallenkrank sein, dachte Otto Heinrich Kummer in diesem Augenblick und achtete weniger auf den Blick des neuen Chefs als auf das Spiel der Falten in dem schmalen Gesicht.

Da schreckte ihn sein Name aus der Betrachtung, und er straffte sich, den Herrn gebuhrend zu begru?en.

«Das ist Herr Otto Heinrich Kummer«, sagte in diesem Augenblick der Riese Bendler.»Der neue 2. Provisor. Sie haben ihn aus Dresden kommen lassen.«

«Aha — der Kummer!«Herr Knackfu? versuchte ein Lacheln, das in den gelben Falten ertrank.»Wann eingetroffen?«

«Soeben«, rief Willi Bendler, ehe der Gefragte eine Antwort fand.»Er kam mit der Fruhpost um halb sieben. «Dann atmete er auf, denn die gro?te Klippe war umschifft. Nun mochte der Apotheker fragen — der Wind war aus den Segeln.

«Sie haben eine gute Fahrt gehabt?«fragte Herr Knackfu? nach einem strengen Seitenblick zu Bendler.»Ihr Herr Vater hat Sie mir sehr warm empfohlen. Aber glauben Sie nicht, da? ich Sie deshalb engagierte. Fursprachen nutzen bei mir nichts — ich will Leistungen sehen.«

«Daran soll es nicht fehlen«, sagte Otto Heinrich schlicht.

«Nicht aufs hohe Pferd, junger Mann«, fiel ihm der Apotheker ins Wort.»Ich habe die besten Referenzen von der Hofapotheke in Dresden — das stimmt —, aber ich uberzeuge mich lieber selbst, ehe ich ein Urteil falle. «Und zu Bendler gewandt, brummte er:»Offnen Sie den Laden, stauben Sie die Regale ab, machen Sie das Pulver fur den Herrn Doktor und den Herrn Magister fertig. «Als aber Otto Heinrich mit dem Freunde das Zimmer verlassen wollte, winkte ihm Knackfu? zu und sagte:»Sie bleiben bitte noch hier, Herr Kummer. Ehe Sie die Apotheke betreten, ist noch manches zu bereden.«

Mit einem Kopfnicken ging Bendler aus dem Zimmer. Laut krachend flog die Tur ins Schlo?.

Herr Knackfu? zuckte zusammen, warf ein Blatt Papier, das er gerade in die Hand genommen hatte, auf den Tisch zuruck und setzte sich.

«Sehen Sie — am fruhen Morgen geht es hier schon los«, sagte er hart.»Stelle ich diesen Bendler zur Rede, so sagt er, die Tur sei ihm aus der Hand gefallen. Er ist ein guter Apotheker, sonst sa?e er schon lange an der Luft. Das wei? er, der Flegel, und deshalb bringt er mich noch ins Grab! Werden Sie nicht so wie er! Er ist ein Revolutionar! Und was schlimmer ist — er ist ein Traumer! In seiner Kammer habe ich einmal Gedichte gefunden! Er leugnete, da? sie von ihm sind. Beweisen konnte man es nicht — aber ist es wahr, beim Satan, dann fliegt er! Ein Dichter revolutionarer Lieder in meinem Hause, das ware das letzte!«Er sah den stillen Otto Heinrich Kummer scharf an und grollte:»Dichten Sie etwa auch?«

«Ich bin Apotheker, Herr Knackfu?«, antwortete er schlicht.

«Das ist gut! Sie konnten sonst mit der nachsten Extrapost nach Dresden zuruckfahren! Man hat nichts als Arger mit seinen Angestellten. «Er nahm die Pfeife aus dem Halter, stopfte sie aus der Dose mit einem wurzigen Tabak und setzte sich mit einem Span aus dem Kohlenbecken in Brand.»Haben Sie schon gefruhstuckt?«fragte er dann den noch immer vor ihm Stehenden.

«Ich hatte auf der langen Fahrt keine Gelegenheit dazu«, murmelte Otto Heinrich und schamte sich, da? es

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