Die Apfel, die sie noch bei sich hat, gibt sie uns.

Auch dem kleinen Peter geht es schlechter. Seine Fiebertafel sieht bose aus, und eines Tages steht neben seinem Bett der flache Wagen. »Wohin?« fragt er.

»Zum Verbandssaal.«

Er wird hinaufgehoben. Aber die Schwester macht den Fehler, seinen Waffenrock vom Haken zu nehmen und ihn ebenfalls auf den Wagen zu legen, damit sie nicht zweimal zu gehen braucht. Peter wei? sofort Bescheid und will sich vom Wagen rollen. »Ich bleibe hier!«

Sie drucken ihn nieder. Er schreit leise mit seiner zerschossenen Lunge:»Ich will nicht ins Sterbezimmer.«

»Wir gehen ja zum Verbandssaal.«

»Wozu braucht ihr dann meinen Waffenrock?« Er kann nicht mehr sprechen. Heiser, aufgeregt, flustert er:»Hierbleiben!«

Sie antworten nicht und fahren ihn hinaus. Vor der Tur versucht er sich aufzurichten. Sein schwarzer Krauskopf bebt, die Augen sind voll Tranen. »Ich komme wieder! Ich komme wieder!« ruft er.

Die Tur schlie?t sich. Wir sind alle erregt; aber wir schweigen. Endlich sagt Josef:»Hat schon mancher gesagt. Wenn man erst drin ist, halt man doch nicht durch.«

* * *

Ich werde operiert und kotze zwei Tage lang. Meine Knochen wollen nicht zusammenwachsen, sagt der Schreiber des Arztes. Bei einem andern sind sie falsch angewachsen; dem werden sie wieder gebrochen. Es ist schon ein Elend. Unter unserm Zuwachs sind zwei junge Soldaten mit Plattfu?en. Bei der Visite entdeckt der Chefarzt sie und bleibt freudig stehen. »Das werden wir wegkriegen«, erzahlt er,»da machen wir eine kleine Operation, und schon haben Sie gesunde Fu?e. Schreiben Sie auf, Schwester.«

Als er fort ist, warnt Josef, der alles wei?:»La?t euch ja nicht operieren! Das ist namlich ein wissenschaftlicher Fimmel vom Alten. Er ist ganz wild auf jeden, den er dafur zu fassen bekommt. Er operiert euch die Plattfu?e, und ihr habt nachher tatsachlich auch keine mehr; dafur habt ihr Klumpfu?e und mu?t euer Leben lang an Stocken laufen.«

»Was soll man denn da machen?« fragt der eine.

»Nein sagen! Ihr seid hier, um eure Schusse zu kurieren, nicht eure Plattfu?e! Habt ihr im Felde keine gehabt? Na, da seht ihr! Jetzt konnt ihr noch laufen, aber wenn der Alte euch erst unter dem Messer gehabt hat, seid ihr Kruppel. Er braucht Versuchskarnickel, fur ihn ist der Krieg eine ‘ gro?artige Zeit deshalb, wie fur alle Arzte. Seht euch unten mal die Station an; da kriechen ein Dutzend Leute herum, die er operiert hat. Manche sind seit vierzehn und funfzehn hier, jahrelang. Kein einziger kann besser laufen als vorher; fast alle aber schlechter, die meisten nur mit Gipsbeinen. Alle halbe Jahre erwischt er sie wieder und bricht ihnen die Knochen aufs neue, und jedesmal soll dann der Erfolg kommen. Nehmt euch in acht, er darf es nicht, wenn ihr nein sagt.«

»Ach, Mensch!« sagt der eine von den beiden mude. »Besser die Fu?e als der Schadel. Wei?t du, was du kriegst, wenn du wieder drau?en bist? Sollen sie mit mir machen, was sie wollen, wenn ich blo? wieder nach Hause komme. Besser ein Klumpfu? als tot.«

Der andere, ein junger Mensch wie wir, will nicht. Am andern Morgen la?t der Alte beide herunterholen und redet und schnauzt so lange auf sie ein, bis sie doch einwilligen. Was sollen sie anders tun. – Sie sind ja nur Muskoten, und er ist ein hohes Tier. Vergipst und chloroformiert werden sie wiedergebracht.

* * *

Albert geht es schlecht. Er wird geholt und amputiert. Das ganze Bein bis obenhin wird abgenommen. Nun spricht er fast gar nicht mehr. Einmal sagt er, er wolle sich erschie?en, wenn er erst wieder an seinen Revolver herankame.

Ein neuer Transport trifft ein. Unsere Stube erhalt zwei Blinde. Einer davon ist ein ganz junger Musiker. Die Schwestern haben nie ein Messer bei sich, wenn sie ihm Essen geben; er hat einer schon einmal eins entrissen. Trotz dieser Vorsicht passiert etwas. Abends beim Futtern wird die Schwester von seinem Bett abgerufen und stellt den Teller mit der Gabel so lange auf seinen Tisch. Er tastet nach der Gabel, fa?t sie und sto?t sie mit aller Kraft gegen sein Herz, dann ergreift er einen Schuh und schlagt auf den Stiel, so fest er kann. Wir rufen um Hilfe, und drei Mann sind notig, ihm die Gabel wegzunehmen. Die stumpfen Zinken waren schon tief eingedrungen. Er schimpft die ganze Nacht auf uns, so da? niemand Schlaf findet. Morgens hat er einen Schreikrampf.

Wieder werden Betten frei. Tage um Tage gehen hin in Schmerzen und Angst, Stohnen und Rocheln. Auch das Vorhandensein der Totenzimmer nutzt nichts mehr, es sind zu wenig, die Leute sterben nachts auch auf unserer Stube. Es geht eben schneller als die Uberlegung der Schwestern.

Aber eines Tages fliegt die Tur auf, der flache Wagen rollt herein, und bla?, schmal, aufrecht, triumphierend, mit gestraubtem, schwarzem Krauskopf sitzt Peter auf der Bahre. Schwester Libertine schiebt ihn mit strahlender Miene an sein altes Bett. Er ist zuruck aus dem Sterbezimmer. Wir haben ihn langst fur tot gehalten.

Er sieht sich um:»Was sagt ihr nun?«

Und selbst Josef mu? zugeben, da? er so was zum ersten Male erlebt.

* * *

Allmahlich durfen einige von uns aufstehen. Auch ich bekomme Krucken zum Herumhumpeln. Doch ich mache wenig Gebrauch davon; ich kann Alberts Blick nicht ertragen, wenn ich durchs Zimmer gehe. Er sieht mir immer mit so sonderbaren Augen nach. Deshalb entschlupfe ich manchmal auf den Korridor – dort kann ich mich freier bewegen.

Im Stockwerk tiefer liegen Bauch- und Ruckenmarkschusse, Kopfschusse und beiderseitig Amputierte. Rechts im Flugel Kieferschusse, Gaskranke, Nasen-, Ohren- und Halsschusse. Links im Flugel Blinde und Lungenschusse, Beckenschusse, Gelenkschusse, Nierenschusse, Hodenschusse, Magenschusse. Man sieht hier erst, wo ein Mensch uberall getroffen werden kann.

Zwei Leute sterben an Wundstarrkrampf. Die Haut wird fahl, die Glieder erstarren, zuletzt leben – lange – nur noch die Augen. – Bei manchen Verletzten hangt das zerschossene Glied an einem Galgen frei in der Luft; unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei oder drei Stunden wird das Gefa? geleert. Andere Leute liegen im Streckverband, mit schweren, herabziehenden Gewichten am Bett. Ich sehe Darmwunden, die standig voll Kot sind. Der Schreiber des Arztes zeigt mir Rontgenaufnahmen von vollig zerschmetterten Huftknochen, Knien und Schultern.

Man kann nicht begreifen, da? uber so zerrissenen Leibern noch Menschengesichter sind, in denen das Leben seinen alltaglichen Fortgang nimmt. Und dabei ist dies nur ein einziges Lazarett, nur eine einzige Station – es gibt Hunderttausende in Deutschland, Hunderttausende in Frank-reich, Hunderttausende in Ru?land. Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas moglich ist! Es mu? alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, da? diese Strome von Blut vergossen wurden, da? diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.

Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung sinnlosester Oberflachlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe, da? Volker gegeneinandergetrieben werden und sich schweigend, unwissend, toricht, gehorsam, unschuldig toten. Ich sehe, da? die klugsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und langer dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und druben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was werden unsere Vater tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Was erwarten sie von uns, wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist? Jahre hindurch war unsere Beschaftigung Toten – es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschrankt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden?

* * *
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