Kirill Bulytschow

DER GEBIRGSPASS

Phantastische Erzahlung

Verlag Das Neue Berlin

Russischer Originaltitel: Перевал © Verlag „Молодая гвардия“, Moskau 1983

Aus dem Russischen von Aljonna Mockel

Illustrationen von Roswitha Gruttner

***

Im Haus war es feucht, Fliegen schwirrten um die Ollampe, die langst hatte geloscht werden mussen, aber die Mutter hatte es naturlich vergessen. Drau?en dagegen war es halbdunkel und regnete. Oleg walzte sich im Bett herum, er war gerade erst aufgewacht. Er hatte Nachtwache gehabt, die Schakale vertrieben, die im ganzen Rudel zum Schuppen drangten, fast uber ihn herfielen. Er fuhlte sich leer und kaum anders als sonst, obwohl er eigentlich damit gerechnet hatte, aufgeregt zu sein, unruhig, vielleicht sogar Angst zu haben. Denn die Chancen, ob man davonkam, standen funfzig zu funfzig, und es war fraglich, ob zu funfzig im Quadrat, im Kubik.

Es mu?te doch eine Gesetzma?igkeit geben, Tabellen mu?ten existieren, sonst wurde man das Fahrrad ja immer von neuem erfinden. Ubrigens wollte er den Alten schon lange fragen, was das war — ein Fahrrad. Ist doch paradox: Man hat’s noch gar nicht erfunden, der Alte aber halt es einem vor, ohne sich uber den Sinn seiner Worte Gedanken zu machen.

Er horte in der Kuche die Mutter husten, demnach war sie zu Hause und nicht, wie Oleg vermutet hatte, zum Pilzesuchen. „Weshalb bist du zu Hause?“ fragte er.

„Du bist wach? Mochtest du Suppe, ich hab sie warmgehalten.“

„Und wer ist nach Pilzen?“

„Marjana und Dick.“

„Weiter niemand?“

„Vielleicht noch eins von den Kindern.“

Sie hatten mich ruhig wecken und mitnehmen konnen.

Marjana hat es zwar nicht versprochen, doch ware es nur normal gewesen.

„Nein, ich habe keinen Hunger.“

„Wenn der Regen nicht endlich aufhort“, sagte die Mutter, „werden die Gurken bis zum Frost nicht mehr reif.

Nicht mehr lange, und alles ist von Schimmel uberwuchert.“

Die Mutter trat ins Zimmer, verscheuchte die Fliegen mit der Hand, blies die Lampe kraftiger an. Oleg schaute zur Decke. Der gelbe Schimmelfleck war gro?er geworden und hatte seine Form verandert. Gestern noch hatte er an Waitkus’ Profil mit der Knollennase erinnert, heute dagegen war diese Nase gequollen wie nach einem Wespenstich, die Stirn aber zum Hocker gebogen.

Keinerlei Ahnlichkeit mehr … Dick war also mit in die Pilze, was trieb ihn dazu, fur ihn war der Wald doch vollig uninteressant. Dick war Jager, ein Mann der Steppe, wie er selbst immer betonte. Vielleicht hatte Marjana ihn darum gebeten? „Dieses Jahr gibt es viele Fliegen“, sagte die Mutter, „sie frieren im Wald.“

„Da hast du ja was fur dein Mitleid gefunden.“

Das Haus war in der Mitte geteilt, die andere Halfte vom Alten und den Durow—Zwillingen bewohnt. Er hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern zu sich genommen. Die Zwillinge waren stets krank: Kaum wurde der eine gesund, erkaltete sich der andere.

Ware nicht ihr standiges nachtliches Gewimmer “

Oleg hatte die Nachtwachen nie und nimmer ubernommen.

Auch jetzt wieder begannen sie einhellig zu greinen, sie hatten Hunger. Das undeutliche ferne Gemurmel des Alten, an das man wie an den Wind gewohnt war, verstummte, die Bank quietschte. Er war in die Kuche gegangen, und sofort begannen auch seine Schuler zu larmen.

„Was hast du dort zu suchen“, sagte die Mutter, „ihr kommt sowieso nicht ans Ziel! Es ware schon Gluck, wenn ihr heil zuruckkehrt.“

Gleich wurde sie zu weinen anfangen. Die Mutter heulte oft in letzter Zeit. Vor allem nachts. Sie brabbelt vor sich hin, walzt sich von einer Seite auf die andere und beginnt dann leise zu weinen, man errat es am Schniefen ihrer Nase. Oder sie fangt beschworend an zu flustern: „Ich kann nicht mehr, nein, ich kann nicht mehr! Da schon lieber sterben …“ Oleg hielt den Atem an, wenn er das horte. Es war ihm peinlich, merken zu lassen, da? er nicht schlief ganz so, als hatte er etwas belauscht, das zu belauschen sich nicht ziemte. Er schamte sich auch, weil er kein Mitleid mit der Mutter empfand. Sie weinte Dingen hinterher, die fur Oleg nicht existierten. Sie weinte um Lander, die er nie sehen wurde, um Menschen, die nie hier gelebt hatten. Er hatte seine Mutter nie anders gekannt als in ihrer jetzigen Gestalt: eine hagere, sehnige Frau mit glattem, scheckigen Haar, das zu einem Nackenknoten gebunden war, sich aber immer wieder loste und ihr in schweren Strahnen ins Gesicht fiel — sie mu?te es standig aus der Stirn blasen. Das Gesicht war rot und voller Narben von Kollerdisteln, sie hatte dunkle Augenringe, die Augen selbst dagegen waren viel zu hell, wie ausgeblichen. Die Mutter sa? am Tisch, hatte die schwieligen Hande mit den flachen, harten Handflachen nach unten, vor sich hingelegt.

Nun fang schon an zu weinen, was wartest du noch, dachte Oleg. Oder wurde sie jetzt wieder das Foto vorholen?

Richtig, sie zog das Kastchen zu sich heran, offnete es und entnahm ihm eine Fotografie.

Der Alte hinter der Wand redete den Zwilling gut zu, damit sie a?en, sie aber greinten. Die Schuler larmten, halfen dem Alten, die Kleinen zu futtern. Alles war wie an einem ganz gewohnlichen Tag, als stunde nichts Besonderes bevor … Was machten die blo? so lange im Wald? Bald war Mittag, dann wollten sie aufbrechen.

Wirklich Zeit, da? sie zuruckkamen. Doch im Wald konnte einem ja sonstwas zusto?en. Die Mutter betrachtete das Foto. Es zeigte sie und den Vater. Oleg hatte dieses Bild bereits tausende Male gesehen und eine Ahnlichkeit zwischen sich und dem Vater zu erkennen versucht. Es war ihm nicht gelungen.

Der Vater hatte helles, lockiges Haar, volle Lippen und ein energisches Kinn. Er lachelte. Die Mutter sagte, da? er fast immer lachelte. Oleg fand sich da schon eher der Mutter ahnlich. Nicht der von heute, sondern der Frau auf dem Bild neben dem Vater. Glattes schwarzes Haar und blasse Lippen. Breite geschwungene Brauen, darunter strahlende blaue Augen. Und helle, sehr helle Haut, die Wangen allerdings kraftig—rot. Oleg errotete gleichfalls sehr leicht.

Und er hatte auch schmale Lippen, glatte schwarze Haare, genau wie die Mutter auf dem Foto. Die Eltern standen dort sehr jung und frohlich nebeneinander. Und auffallend schmuck. Der Vater in Uniform, die Mutter in schulterfreiem Kleid man sagte wohl Sarafan dazu.

Damals, vor zwanzig Jahren, hatte es ihn, Oleg, noch nicht gegeben. Vor funfzehn Jahren dagegen schon.

„Mutter“, sagte Oleg, „hor auf, was soll’s.“

„Ich la? dich nicht gehn“, erwiderte die Mutter „ich la? dich nicht und basta. Nur uber meine Leiche.“

„Mutter“, sagte Oleg und setzte sich im Bett auf, „genug jetzt, ja? Ich e? lieber was von der Suppe.“

„Hol sie dir aus der Kuche, sie mu?te noch warm sein.“

Ihre Augen waren feucht. Sie hatte also doch geweint, als ob sie Oleg bereits beerdigt hatte. Aber vielleicht galten die Tranen auch dem Vater. Diese Fotografie war fur sie der lebende Mensch. Oleg dagegen, so sehr er sich auch bemuhte, konnte sich kein bi?chen mehr an den Vater erinnern.

Er stand auf und ging in die Kuche. Dort traf er den Alten, der gerade Feuer im Herd machte.

„Ich helfe dir“, sagte Oleg, „soll ich Wasser kochen?“

„Ja“, erwiderte der Alte, „danke. Ich hab doch jetzt Unterricht. Komm nachher zu mir.“

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