»Was ist, Colgu?«

»Ich furchte, ich habe dich nicht zu einem Familientreffen herkommen lassen«, gestand er leise.

Fidelma sah ihren Bruder an und wartete auf weitere Erklarungen. Als sie nicht kamen, sagte sie ruhig: »Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Was ist los?«

Colgu blickte sich beinahe angstlich um, als wolle er sichergehen, da? ihn niemand horen konne.

»Der Konig ...«, begann er. »Konig Cathal ist von der Gelben Pest befallen worden. Er liegt in seinem Zimmer im Sterben. Die Arzte geben ihm nicht mehr viel Zeit.«

Fidelma schlo? die Augen, doch im Innersten war sie von der Neuigkeit nicht uberrascht. Seit zwei Jahren verbreitete sich die Gelbe Pest nun schon durch Europa und dezimierte die Bevolkerung. Zehntausende waren ihr zum Opfer gefallen. Sie verschonte weder den niederen Bauern noch den selbstbewu?ten Bischof, noch die erhabenen Konige. Erst vor achtzehn Monaten, als die Pest Eireann erreichte, waren die gemeinsam regierenden Gro?konige von Irland, Blathmac und Diarmuid, beide innerhalb weniger Tage in Tara daran gestorben. Vor wenigen Monaten war Faelan, der Konig von Laigin, ihr erlegen. Und die Pest wutete unvermindert weiter. Im ganzen Land gab es zahllose Waisenkinder, deren Eltern die Pest hinweggerafft hatte und die nun hilflos verhungerten. Einige Glaubensmanner, wie der Abt Ultan von Ard-braccan, hatten Waisenhauser eingerichtet und die Pest bekampft, wahrend andere sich verhielten wie Colman, der Rektor der Hochschule des heiligen Finnbarr in Cork, der einfach seine funfzig Schuler genommen hatte und mit ihnen auf eine einsame Insel geflohen war, um der Pest zu entgehen. Fidelma wu?te sehr gut, was fur eine Gei?el die Gelbe Pest war.

»Hast du mich deshalb kommen lassen?« fragte sie. »Weil unser Vetter stirbt?«

Colgu schuttelte rasch den Kopf.

»Konig Cathal hat mir befohlen, dich holen zu lassen, noch bevor ihn das Fieber der Pest ergriff. Jetzt kann er dir keine Anweisungen mehr geben, das fallt nun mir zu.«

Er beruhrte ihren Ellbogen. »Aber erst mu?t du dich von der Reise ausruhen. Danach ist immer noch Zeit dafur. Komm, ich habe dir dein altes Zimmer herrichten lassen.«

Fidelma versuchte einen Seufzer der Ungeduld zu unterdrucken.

»Du kennst mich gut genug, Bruder. Du wei?t, da? ich nicht ruhen kann, solange es ein Geheimnis zu entratseln gibt. Du stachelst meine Phantasie nur noch an. Komm, erklar mir, worum es sich handelt, dann kann ich mich ausruhen.«

Colgu setzte zum Sprechen an, als man zornig erhobene Stimmen vernahm. Man horte ein Handgemenge, und Colgu war aufgesprungen, um zu sehen, was da vor sich ging, als die Tur aufflog und Forbas-sach von Fearna ihm entgegentrat. Er war rot im Gesicht und atmete schwer vor Anstrengung.

Hinter ihm stand der junge Krieger Cass und hatte sein hubsches Gesicht argerlich verzogen.

»Verzeihung, Mylord. Ich konnte ihn nicht aufhalten.«

Colgu betrachtete den Gesandten des Konigs von Laigin mit Mi?fallen.

»Was hat dieses unhofliche Benehmen zu bedeuten, Forbassach? Hast du dich vergessen?«

Forbassach reckte arrogant und verachtungsvoll das Kinn vor.

»Ich brauche eine Antwort, die ich Fianamail, dem Konig von Laigin, uberbringen kann. Dein Konig liegt im Sterben, Colgu. Deshalb ist es an dir, auf die Vorwurfe von Laigin zu antworten.«

Fidelma machte eine undurchdringliche Miene, um ihren Arger daruber zu verbergen, da? sie den Sinn dieser Konfrontation nicht verstand.

Colgu errotete vor Zorn.

»Noch lebt Cathal von Muman, Forbassach. Solange er lebt, ist er es, der auf deine Vorwurfe antwortet. Du hast soeben die Gastfreundschaft dieses Hofes verletzt. Als Thronfolger verlange ich, da? du diesen Ort verla?t. Wenn der Hof von Cashel dir etwas mitzuteilen hat, wird er dich rufen lassen.«

Forbassachs schmale Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lacheln.

»Ich wei?, da? du die Antwort nur hinauszogern willst, Colgu. Sobald ich sah, da? deine Schwester Fidelma von Kildare angekommen ist, war mir klar, da? du versuchen wirst, uns hinzuhalten und Ausfluchte zu machen. Das wird dir nichts nutzen. Laigin verlangt immer noch eine Antwort. Laigin verlangt Gerechtigkeit!«

Colgu konnte sichtlich nur muhsam seinen Zorn beherrschen.

»Fidelma, erklare mir das Gesetz.« Er sprach seine

Schwester an, ohne den Blick von Forbassach abzuwenden. »Dieser Abgesandte von Laigin hat, meine ich, die Grenzen des geheiligten Gastrechts uberschritten. Er ist eingedrungen, wo er es nicht durfte, und er hat uns beleidigt. Darf ich befehlen, da? er mit Gewalt von diesem Hof entfernt wird?«

Fidelma sah den hochmutigen Brehon von Fearna an.

»Entschuldigst du dich fur dein unberechtigtes Eindringen in ein privates Gemach, Forbassach?« fragte sie. »Und tust du Abbitte fur dein beleidigendes Verhalten gegenuber dem Thronfolger von Cashel?«

Forbassach reckte das Kinn noch hoher, und seine Miene verdusterte sich noch mehr.

»Ich doch nicht.«

»Dann mu?test du als Brehon das Gesetz kennen. Du mu?t diesen Hof sofort verlassen.«

Colgu sah den Krieger namens Cass an und nickte ihm kaum merklich zu.

Der hochgewachsene Mann legte Forbassach die Hand auf die Schulter.

Der Abgesandte von Laigin wand sich unter seinem Griff, und sein Gesicht rotete sich.

»Fianamail von Laigin wird von dieser Beleidigung erfahren, Colgu. Sie wird deine Schuld noch vergro?ern, wenn du von der Ratsversammlung des Gro?konigs in Tara gerichtet wirst!«

Der Krieger hatte den Abgesandten von Laigin ohne sichtbare Gewaltanwendung herumgedreht und ihn zur Tur hinausgeschoben. Dann schlo? er sie hinter ihm mit einer entschuldigenden Geste zu Colgu.

Fidelma wandte sich an ihren Bruder, der nun seine steife Haltung lockerte.

»Ich glaube, es wird Zeit, da? du mir erklarst, was sich hier wirklich abspielt«, sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit.

Kapitel 2

Colgu schien die Antwort erneut aufschieben zu wollen, doch als er das Funkeln in den Augen seiner jungeren Schwester sah, uberlegte er es sich anders.

»Na schon«, antwortete er. »Aber gehen wir lieber da hin, wo wir offener sprechen konnen und nicht noch mal unterbrochen werden. Es gibt viele Lauscher, die den Konigen von Muman ubel gesonnen sind.«

Fidelma hob uberrascht die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Sie wu?te, da? ihr Bruder nicht zu Ubertreibungen neigte.

Sie folgte ihm wortlos aus dem Zimmer und durch die Korridore des Palastes, deren Steinwande mit reichen Teppichen verkleidet und mit Kunstgegenstanden geschmuckt waren, die die Eoganacht-Konige im Laufe der Jahrhunderte gesammelt hatten. Colgu fuhrte sie durch einen gro?en Raum, den sie als die Tech Screptra, das scriptorium oder die Bibliothek des Palastes, kannte, wo sie als kleines Madchen lesen und schreiben gelernt hatte. Neben eindrucksvollen illustrierten Pergamenttexten enthielt die Tech Screptra einige der alten Bucher von Muman. Darunter befanden sich die »Stabe der Dichter«, Stocke aus Espenoder Haselholz, in die die Schreiber der Vorzeit ihre Sagas, Gedichte und Geschichten in Ogham eingeritzt hatten, der alten Schrift, die noch in Teilen von Muman in Gebrauch war. In dieser Tech Screptra waren die Phantasie und der Wissensdurst des kleinen Madchens wachgerufen worden.

Fidelma blieb kurz stehen, beinahe uberwaltigt von Nostalgie, und hing lachelnd ihren Erinnerungen nach. Mehrere Glaubensbruder sa?en dort und bruteten im Licht der blakenden Talgkerzen uber den Buchern.

Sie merkte, da? Colgu ungeduldig auf sie wartete.

»Wie ich sehe, offnet ihr auch weiterhin die Bibliothek den Gelehrten der Kirche«, meinte sie beifallig, als sie zusammen weitergingen. Die gro?e Bibliothek von Cashel war das personliche Eigentum der Konige von Muman.

»Das wird nie anders sein, solange wir im Glauben bleiben«, antwortete Colgu fest.

»Ich habe aber gehort, da? gewisse engstirnige Glaubensmanner die alten Texte, die >Stabe der Dichter<, mit der Begrundung verbrennen, da? sie von gotzen-anbetenden Heiden geschrieben wurden. In Cashel gibt es viele solcher Bucher. Schutzt ihr sie vor solcher Intoleranz?«

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