Deshalb schrieb ich über den Baseball-Handschuh von meinem Bruder Allie. Das war ein gutes Thema. Wirklich. Mein Bruder Allie hatte einen Linkshänder-Fänger-Handschuh für Feldspieler. Er war linkshändig. Auf die Finger und überallhin hatte er Gedichte geschrieben. Mit grüner Tinte. Er schrieb sie darauf, damit er etwas zu lesen hätte, wenn er im Feld stand und keiner am Schlagen war. Allie ist tot. Er bekam Leukämie und starb, als wir in Maine waren, am 18. Juli 1946. Jeder hatte ihn gern. Er war zwei Jahre jünger als ich, aber fünfzigmal so intelligent. Seine Lehrer schrieben meiner Mutter immer, was für eine Freude es sei, Allie in der Klasse zu haben. Und das war nicht nur das übliche Gewäsch. Sie meinten es wirklich ernst. Aber er war nicht nur der intelligenteste in unserer Familie, sondern auch der netteste, in vielen Punkten. Er wurde nie über jemand wütend. Rothaarige sollen sonst sehr wütend werden, aber bei Allie kam das nie vor, obwohl er brandrote Haare hatte. Ich will versuchen, die Farbe zu beschreiben. Ich fing schon mit zehn Jahren an, Golf zu spielen. Einmal im Sommer, als ich ungefähr zwölf war, wollte ich gerade den Ball abschlagen und hatte plötzlich das Gefühl, daß ich Allie sehen würde, wenn ich mich umdrehte. Ich drehte mich also um, und tatsächlich saß er draußen am Zaun auf seinem Rad - der ganze Golfplatz war eingezäunt - und schaute mir zu, in gut hundertfünfzig Meter Entfernung. So rote Haare hatte er. Er war furchtbar nett. Manchmal lachte er bei Tisch so wild über irgend etwas, woran er gerade dachte, daß er fast vom Stuhl fiel.

Ich war erst dreizehn, und sie wollten mich psychoanalysieren lassen, weil ich in der Garage alle Fenster einschlug. In der Nacht, in der er starb, schlief ich in der Garage und schlug mit der Faust alle verdammten Fenster ein, einfach so. Ich wollte auch noch die Fenster vom Auto einschlagen, aber ich hatte mir schon die Hand gebrochen und so und konnte nicht mehr. Natürlich war das blödsinnig, aber ich wußte eigentlich kaum, was ich tat, und man müßte eben Allie gekannt haben, um es zu verstehen. Meine Hand tut mir immer noch von Zeit zu Zeit weh, wenn es regnet oder so, und ich kann keine richtige Faust mehr machen - keine feste, meine ich -, aber sonst ist es mir gleichgültig. Ich werde ja ohnedies kein verdammter Chirurg oder Geiger oder so was.

Über diesen Baseball-Handschuh also schrieb ich Stradlaters Aufsatz. Zufällig hatte ich den Handschuh in meinem Koller. Ich holte ihn und schrieb die Gedichte ab, die daraufstanden. Ich brauchte nur Allies Namen zu ändern, damit niemand merken konnte, daß es mein Bruder war und nicht der von Stradlater. Ich selber war nicht gerade toll vor Begeisterung, aber es fiel mir nichts anderes ein, was ich hätte schildern können. Eigentlich schrieb ich ganz gern darüber. Ich brauchte ungefähr eine

Stunde dazu, weil Stradlaters miserable Schreibmaschine fortwährend klemmte. Ich konnte nicht auf meiner eigenen schreiben, weil ich sie einem andern geliehen hatte.

Ungefähr um halb elf war ich fertig. Ich war aber noch nicht müde. Deshalb schaute ich eine Weile zum Fenster hinaus. Es schneite nicht mehr, aber ab und zu hörte man irgendein Auto, das nicht anspringen wollte. Außerdem hörte man durch die verdammten Vorhänge vom Duschraum, wie Ackley schnarchte. Er hatte Stockschnupfen und konnte nicht recht atmen, wenn er schlief. Dieser Ackley hatte so ziemlich alles, was ein Mensch nur haben kann.

Stirnhöhlengeschichten, Pickel, schlechte Zähne, Mundgeruch, abscheuliche Fingernägel. Der arme Hund konnte einem leid tun.

6

Manche Sachen behält man nicht leicht im Gedächtnis. Ich denke dabei an Stradlaters Rückkehr von seinem Ausflug mit Jane. Ich meine, ich kann mich nicht genau erinnern, was ich tat, als ich seine verfluchten Schritte im Gang hörte. Wahrscheinlich schaute ich immer noch zum Fenster hinaus, aber ich kann mich wirklich nicht genau erinnern, weil ich mir so fürchterliche Sorgen machte. Wenn ich mir wirklich über etwas Sorgen mache, ist das nicht nur oberflächlich. Ich bekomme sogar Bauchweh und müßte eigentlich verschwinden, wenn ich mir Sorgen mache. Aber ich gehe dann doch nicht. Ich mache mir zu sehr Sorgen, um hinauszugehen. Ich will meine Sorgen nicht damit unterbrechen. Wer Stradlater kennt, weiß schon, warum man sich Sorgen machen muß. Wir waren schon ein paarmal zu viert ausgegangen, Stradlater und ich und zwei Mädchen, ich weiß also, wovon ich rede. Er war gewissenlos. Wirklich.

Im Gang war Linoleum. Man hörte seine verdammten Schritte von weitem näher kommen. Ich weiß nicht einmal mehr, wo ich saß, als er hereinkam - ob am Fenster oder in meinem Sessel oder in seinem. Ich weiß es wirklich nicht mehr.

Zuerst fluchte er darüber, wie kalt es draußen sei. Dann sagte er: «Wo zum Teufel sind denn alle? Es ist wie in einem gottverdammten Leichenhaus.» Ich gab keine Antwort. Wenn er so blöde war und nicht einmal wußte, daß es Samstagabend war und alle ausgegangen waren oder schliefen oder übers Wochenende heimgefahren waren, dann brauchte ich mir kein Bein auszureißen, um es ihm zu erklären. Er fing an sich auszuziehen. Kein Wort über Jane. Keine einzige verdammte Silbe. Ich schwieg auch. Ich sah ihm nur zu. Er bedankte sich wenigstens dafür, daß ich ihm meine karierte Jacke geliehen hatte. Er hängte sie auf einen Bügel und dann in den Schrank.

Als er die Krawatte abnahm, fragte er, ob ich seinen verdammten Aufsatz geschrieben hätte. Ich sagte, der äge dort auf seinem verdammten Bett. Er ging hin und fing an zu lesen, während er sein Hemd aufknöpfte. Er stand da und las und strich sich dabei auf seiner nackten Brust und dem Bauch herum, mit einem furchtbar blöden Gesichtsausdruck. Er rieb sich immer den Bauch oder die Brust.

Er war wahnsinnig in sich verliebt.

Plötzlich sagte er: «Herr im Himmel, Holden. Das ist ja über einen verdammten Baseball-Handschuh.»

«Und?» sagte ich, kalt wie ein Eisblock.

«Was meinst du mit <und>? Ich habe dir doch gesagt, daß es über ein verfluchtes Zimmer oder ein Haus oder was weiß ich sein soll.»

«Du hast gesagt, es müsse eine Beschreibung sein. Warum zum Teufel ist denn ein Baseball-Handschuh nicht recht?»

«Verdammt noch mal.» Er war wütend. Wirklich in Wut. «Du mußt immer etwas Verrücktes tun.»

Er schaute mich an. «Kein Wunder, daß du hier herausfliegst», sagte er. «Nichts, überhaupt nichts kannst du so machen, wie man es dir sagt. Keinen einzigen verdammten Aufsatz.»

«Schön, gib ihn mir wieder», sagte ich. Ich ging hin und nahm ihm die Blätter aus der Hand. Dann zerriß ich sie.

«Was zum Teufel soll das jetzt sein?» sagte er.

Ich gab ihm keine Antwort. Ich warf nur die letzten in den Papierkorb. Dann legte ich mich auf mein Bett, Lind wir sagten beide lange nichts mehr. Er zog sich bis auf die Unterhosen aus, und ich lag auf dem Bett und zündete mir eine Zigarette an. Das war in den Schlafzimmern verboten, aber nachts konnte man es doch wagen, wenn alle schliefen oder aus waren und niemand den Rauch riechen konnte. Außerdem tat ich es, um Stradlater

zu ärgern. Es machte ihn verrückt, wenn man sich gegen die Regeln verging. Er selbst rauchte nie im Zimmer, nur ich.

Er sagte immer noch kein einziges Wort über Jane. Deshalb sagte ich schließlich: «Du kommst spät zurück, wenn sie sich nur bis halb zehn abgemeldet hatte. Ist sie wegen dir zu spät heimgekommen?»

Er saß auf seiner Bettkante und schnitt sich seine verdammten Zehennägel, als ich das fragte. «Einen Augenblick», sagte er. «Wer zum Kuckuck meldet sich denn auch am

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