Schüler in Pencey», sagte ich.

«Wußten Sie das?»

«Nein, das wußte ich nicht.»

Ich nickte. «Die meisten haben lange gebraucht, bis sie ihn richtig kannten. Er ist ein komischer Mensch. Wirklich sonderbar in vieler Hinsicht - verstehen Sie, was ich meine? Zuerst hielt ich ihn für einen Snob. Aber er ist gar keiner. Er hat nur einen sehr originellen Charakter, so daß man eine Weile braucht, bis man ihn richtig kennt.»

Mrs. Morrow schwieg, aber man hätte sie dabei sehen sollen. Sie saß wie angeleimt da. Jede Mutter will immer nur hören, was für ein Prachtexemplar ihr Sohn sei.

Dann legte ich mich wirklich ins Zeug. «Hat er Ihnen von den Wahlen in unserer Klasse erzählt?» fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. Ich hatte sie sozusagen hypnotisiert. Im Ernst.

«Viele von uns wollten ihn als Klassenpräsident haben. Eigentlich waren alle einstimmig für ihn. Er war eben der einzige, der dieser Aufgabe wirklich gewachsen gewesen wäre», sagte ich. Großer Gott, ich ging vielleicht ran. «Aber dann wurde ein anderer gewählt - Harry Fencer. Aus dem einfachen und offensichtlichen Grunde, daß Ernie sich nicht wählen lassen wollte. Weil er so furchtbar schüchtern und bescheiden ist. Er weigerte sich. Er ist wirklich viel zu schüchtern. Sie müßten versuchen, ihn darüber wegzubringen.» Ich schaute sie an. «Hat er wirklich gar nichts davon erzählt?»

«Nein, kein Wort.»

Ich nickte. «Das sieht ihm ähnlich. Charakteristisch für ihn. Das ist sein einziger Fehler - er ist viel zu schüchtern und bescheiden. Sie sollten wirklich versuchen, ihn manchmal zu lockern.»

In diesem Augenblick kam der Schaffner und wollte Mrs. Morrows Billett sehen. Das war eine gute Gelegenheit, mit dem Gefasel aufzuhören. Aber ich bin doch froh, daß ich das alles gesagt habe. So ein Typ wie Morrow, der immer mit seinem Handtuch andern auf den Arsch schlägt - um den andern wirklich weh zu tun -, ist ja nicht nur in seiner Kindheit ein Schwein. Er bleibt ein ganzes Leben lang ein Schwein. Aber auf mein Geschwätz hin sieht Mrs. Morrow sicher immer den schüchternen, bescheidenen Knaben in ihm, der sich nicht wählen lassen wollte. Vielleicht. Man weiß nie, Mütter sind in diesen Sachen nie besonders helle.

«Hätten Sie gern einen Cocktail?» fragte ich. Ich war selber in der Stimmung, einen zu trinken. «Wir können in den Speisewagen gehen. Hätten Sie Lust?»

«Dürfen Sie denn Drinks bestellen, mein Lieber?» fragte sie. Nicht hochnäsig. Sie war viel zu nett, um hochnäsig zu sein.

«Nein, eigentlich nicht, aber meistens bekomme ich sie doch, wegen meiner Größe», sagte ich. «Und ich habe ziemlich viel graue Haare.» Ich drehte den Kopf auf die Seite und zeigte ihr die grauen Haare. Sie war ganz fasziniert. «Kommen Sie mit, wollen Sie nicht?» sagte ich. Es hätte mir großes Vergnügen gemacht.

«Ich glaube, doch lieber nicht. Aber vielen Dank, mein Lieber», sagte sie. «Wahrscheinlich ist der Speisewagen ohnedies geschlossen. Es ist schon ziemlich spät.» Damit hatte sie recht. Ich hatte nicht daran gedacht, wieviel Uhr es war.

Dann schaute sie mich an und stellte die Frage, die ich schon lange befürchtet hatte. «Ernest schrieb mir, er käme Mittwoch heim, die Weihnachtsferien fingen am Mittwoch an», sagte sie. «Hoffentlich müssen Sie nicht wegen einem Krankheitsfall in Ihrer Familie früher heimreisen.» Sie schien ernstlich besorgt zu sein. Sie fragte nicht einfach aus Neugierde, das sah man deutlich.

«Nein, zu Hause geht es allen gut», sagte ich. «Nur ich selber muß mich jetzt operieren lassen.»

«Ach! Das tut mir aber leid!» sagte sie. Sie meinte es sogar aufrichtig. Ich bereute sofort, daß ich das gesagt hatte, aber es war zu spät.

«Nichts Ernstes. Ich habe nur einen ganz kleinen Tumor im Gehirn.»

«Wie schrecklich!» Sie hielt sich die Hand vor den Mund.

«Ach, ich erhole mich bald wieder. Er liegt nicht tief, ganz außen sogar. Und er ist sehr klein. Man kann ihn in zwei Minuten entfernen.»

Dann fing ich an, in dem Fahrplan zu lesen, den ich in der Tasche hatte. Nur um mit dem Lügen aufzuhören. Sobald ich einmal in Fahrt bin, kann ich stundenlang weiterlügen, wenn ich dazu aufgelegt bin. Stundenlang, im Ernst!

Danach sagten wir nicht mehr viel. Sie las in einem Vogue-Heft, und ich schaute eine Weile zum Fenster hinaus. In Newark stieg sie aus. Sie wünschte mir alles Gute für die Operation. Sie nannte mich immer weiter Rudolf. Dann lud sie mich ein, Ernie im Sommer in Gloucester zu besuchen, in Massachusetts. Sie sagte, sie wohnten ganz am Strand, und sie hätten einen Tennisplatz und so.

Aber ich bedankte mich nur und sagte, ich ginge mit meiner Großmutter nach Südamerika. Das war besonders stark, weil meine Großmutter kaum jemals auch nur ihr Haus verläßt höchstens für irgendeine verdammte Matinee oder so. Aber diesen Hund Morrow würde ich um alles Geld in der Welt nicht besuchen, nicht einmal, wenn ich am Verzweifeln wäre.

9

Als ich in Penn Station ausstieg, ging ich zuallererst in eine Telefonkabine. Ich hatte Lust, irgend jemand anzurufen. Ich ließ die Koffer vor der Kabine stehen, um sie im Auge zu behalten, aber sobald ich drinnen war, fiel mir kein Mensch ein, mit dem ich hätte telefonieren können. Mein Bruder D.B. war in Hollywood. Meine kleine Schwester Phoebe geht immer um neun ins Bett - sie kam also auch nicht in Betracht. Sie selbst hätte zwar nichts dagegen gehabt, wenn sie von mir geweckt worden wäre, aber leider hätte nicht sie das Telefon abgenommen, sondern meine Eltern. Das ging nicht. Dann wollte ich Jane Galaghers Mutter anrufen und fragen, wann Janes Ferien anfingen, aber dann war ich doch nicht in der Stimmung dazu. Außerdem war es schon reichlich spät. Schließlich dachte ich an das Mädchen, mit dem ich oft ausgegangen war, Sally Hayes, weil ich wußte, daß sie schon Ferien hatte - sie hatte mir einen langen affektierten Brief geschrieben und mich eingeladen, ihr am Heiligen Abend den Baum schmücken zu helfen -, aber ich befürchtete, daß ihre Mutter ans Telefon käme.

Ihre Mutter kannte meine Mutter, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich sofort ein Bein ausreißen würde, um meine Mutter anzurufen, und ihr mitteilen würde, daß ich in New York sei. Ich legte überhaupt keinen großen Wert darauf, mit Mrs. Hayes zu telefonieren. Sie hatte einmal zu Sally gesagt, ich sei haltlos und hätte keine feste Lebensrichtung. Zu guter Letzt fiel mir noch Carl Luce ein, mit dem ich früher in Whooton gewesen war, aber ich hatte ihn nicht besonders gern. Deshalb rief ich schließlich überhaupt niemand an. Ich kam nach ungefähr zwanzig Minuten wieder aus der Kabine heraus, nahm meine Koffer und ging zu den Taxis hinüber.

Ich bin so verdammt zerstreut, daß ich dem Fahrer aus lauter Gewohnheit meine richtige Adresse gab - ich vergaß vollständig, daß ich ein paar Tage lang in einem Hotel absteigen wollte, bis die Ferien anfingen. Es fiel mir erst wieder ein, als wir schon halb durch den Central Park gefahren waren. Ich rief: «He, könnten Sie wohl bei der nächsten Gelegenheit umkehren? Ich wollte in die Stadt hinein.»

Der Fahrer antwortete ziemlich frech: «Hier kann ich nicht umkehren, Mic. Einbahn. Ich muß bis zur Nineteenth Street fahren.»

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