Er tut es einfach doch.

««Die Ägypter waren ein alter kaukasischer Volksstamm, der eines der nördlichsten Gebiete Afrikas bewohnte. Dieses Land ist bekanntlich der größte Kontinent in der östlichen Hemisphäre.»

Ich mußte dabeisitzen und mir diesen Mist anhören. Das war wirklich niederträchtig.

«Die Ägypter sind heute aus verschiedenen Gründen von besonderem Interesse für uns. Die moderne Wissenschaft forscht immer noch danach, woraus die geheimen Mittel bestanden, welche die Ägypter verwendeten, wenn sie die Toten so herrichteten, daß ihre Gesichter während unzähliger Jahrhunderte nicht verwesten. Dieses interessante Rätsel bedeutet noch immer ein Problem für die moderne Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert.)»

Er unterbrach sich und legte mein Blatt auf seine Knie. Ich fing an, ihn beinah zu hassen. «Dein Aufsatz, wenn man ihn so nennen will, ist hier zu Ende», sagte er wieder in sehr sarkastischem Ton.

Man hätte gar nicht vermutet, daß ein so alter Knabe so sarkastisch sein könnte. «Immerhin hast du unten an der Seite eine kleine Mitteilung für mich angefügt», sagte er.

«Ich weiß», sagte ich. Ich sagte das sehr hastig, weil ich ihn daran hindern wollte, auch das noch vorzulesen. Aber er war nicht aufzuhalten. Er war jetzt in fahrt wie eine Rakete.

««Lieber Mr. Spencer»», las er. <«Das ist alles, was ich über die Ägypter weiß. Ich kann offenbar kein richtiges Interesse für sie aufbringen, obwohl Ihr Unterricht sehr interessant ist. Ich finde es ganz in Ordnung, wenn Sie mich durchfallen lassen, ich falle ja ohnedies in allen Fächern außer im Englischen durch. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr Holden Caulfield.?» Er legte mein verdammtes Blatt weg und schaute mich triumphierend an, als ob er mich gerade im Pingpong oder so besiegt hätte. Ich glaube, ich kann ihm nie verzeihen, daß er mir diesen Mist vorlas. Ich jedenfalls hätte ihm das nicht vorgelesen, wenn er es verfaßt hätte - soviel ist sicher. Vor allem hatte ich diesen verdammten Schluß ja nur geschrieben, damit es ihm nicht so schwer fiele, mich durchfallen zu lassen.

«Machst du mir einen Vorwurf daraus, daß ich dich durchfallen ließ, Junge?» fragte er.

«Nein, Sir, ganz gewiß nicht», sagte ich. Und ich hätte verflucht viel darum gegeben, wenn er aufgehört hätte, mich die ganze Zeit «Junge > zu nennen.

Er versuchte meine Examensarbeit auf das Bett zu werfen, als er damit fertig war. Natürlich traf er wieder daneben. Ich mußte wieder aufstehen und sie vom Boden aufheben und sie auf die

Zeitschrift legen. Es ist langweilig, das alle zwei Minuten zu tun.

«Was hättest du an meiner Stelle getan?» fragte er. «Sag die Wahrheit, Junge.»

Offenbar kam es ihm ziemlich schäbig vor, daß er mich hatte durchfallen lassen. Ich sagte also meinen Spruch auf. Ich sagte, ich sei eben ein Dummkopf und so. Ich sagte, an seiner Stelle hätte ich genau dasselbe getan, und die meisten Leute wären sich nicht richtig klar darüber, wie schwer es ein Lehrer habe. Und lauter solches Zeug. Die üblichen Sprüche.

Komischerweise dachte ich aber an etwas anderes, während ich meinen Spruch aufsagte. Ich wohne in New York, und ich dachte an den See im Central Park, in der Nähe von Central Park South. Ich dachte, ob er wohl zugefroren wäre, wenn ich heimkäme, und wo dann wohl die Enten hingingen. Ich fragte mich, was aus den Enten würde, wenn der ganze See zugefroren wäre. Ob wohl einer mit einem Auto käme und sie in einen Zoo oder sonst irgendwohin brächte. Oder ob sie einfach fortflögen.

Ich habe es eigentlich gut. Ich meine, ich konnte dem alten Spencer meinen Spruch aufsagen und gleichzeitig an die Enten denken. Komisch. Man braucht nie besonders nachzudenken, wenn man mit einem Lehrer spricht. Aber plötzlich unterbrach er mich. Er unterbricht einen immer.

«Was für ein Gefühl hast du bei der ganzen Sache, Junge? Das würde mich interessieren, wirklich sehr interessieren.»

«Sie meinen, daß ich von Pencey weg muß?» sagte ich. Ich hätte nur gewollt, daß er seine knochige Brust bedeckt hätte. Es war nicht gerade ein überwältigend schöner Anblick.

«Wenn ich nicht irre, hattest du auch in Whooton und in Elkton Hills Schwierigkeiten.» Das sagte er nicht nur sarkastisch, sondern ziemlich gemein.

«In Elkton Hills hatte ich keine besonderen Schwierigkeiten», antwortete ich. «Ich bin nicht geschaßt worden oder so. Ich bin einfach weggegangen.»

«Und warum, wenn ich fragen darf?»

«Warum? Ach, das ist eine lange Geschichte, Sir. Ziemlich kompliziert.» Ich hatte keine Lust, ihm das alles zu erzählen. Er hätte es ohnedies nicht verstanden. Es war nicht in seiner Linie. Ein Hauptgrund, warum ich von Elkton Hills fortging, war, daß lauter blasierte Heuchler dort waren. Das ist alles. Sie kamen aus allen Ritzen. Zum Beispiel der Rektor, Mr. Haas, war der verlogenste Hund, dem ich je begegnet bin. Hundertmal schlimmer als Thurmer. An Sonntagen zum Beispiel ging er herum und begrüßte alle Eltern, die auf Besuch kamen. Dann war er unbeschreiblich charmant.

Ausgenommen, wenn einer komische Eltern hatte. Es war sehenswert, wie er die Eltern von meinem Zimmergenossen behandelte. Ich meine, wenn eine dick oder schlecht angezogen war oder so und wenn ein Vater einen Anzug mit wuchtigen Schultern anhatte und geschmacklose schwarzweiße Schuhe, dann gab ihnen Haas nur schnell die Hand und lächelte blasiert und redete eine gute halbe Stunde lang mit anderen Eltern. So etwas kann ich nicht ausstehen. Es macht mich rasend. Es deprimiert mich so, daß ich verrückt werde. Die ganze verdammte Schule war mir verhaßt.

Spencer fragte mich irgend etwas, aber ich hörte nicht zu. Ich dachte an diesen Haas. «Wie, Sir?»

sagte ich.

es dich, daß du von Pencey fortgehst?»

«Ach, etwas schon, sicher. Aber nicht besonders. Jetzt jedenfalls noch nicht. Wahrscheinlich ist es mir noch gar nicht richtig klar. Es dauert immer eine Weile, bis mir etwas klar wird. Vorläufig denke ich nur daran, daß ich am Mittwoch heimfahre. Ich bin eine Niete.»

«Machst du dir gar keine Sorgen über deine Zukunft, Junge?»

«Doch, Sorgen mache ich mir schon. Das sicher. Doch, natürlich.» Ich dachte einen Augenblick darüber nach. «Aber nicht übermäßig, glaube ich.»

«Das wird noch kommen, Junge», sagte Spencer. «Das wird noch kommen. Wenn es zu spät ist.»

Ich hörte das nicht gern. Es klang, als ob ich tot wäre oder ich weiß nicht was. Es war deprimierend.

«Ja, wahrscheinlich», sagte ich.

«Ich würde dir gern etwas Vernunft beibringen, Junge. Ich versuche nur, dir zu helfen. Ich versuche, dir wirklich zu helfen»

Das stimmte tatsächlich. Man sah es ihm an. Aber wir standen eben auf verschiedenen Seiten. «Ich weiß, daß Sie das wollen, Sir», sagte ich. «Vielen Dank. Im Ernst. Ich weiß es auch zu schätzen, ganz im Ernst.» Dann stand ich vom Bett auf. Ich hätte um mein Leben keine zehn Minuten länger dort sitzen können. «Leider muß ich jetzt gehen. Ich muß noch einen Haufen Zeug aus der Turnhalle holen, bevor ich heimfahre. Wirklich.» Er schaute zu mir hinauf und fing wieder an zu nicken, mit todernstem Gesicht. Plötzlich tat er mir fürchterlich leid. Aber ich konnte einfach nicht mehr länger dortbleiben; wir standen auf so entgegengesetzten Seiten, und er verfehlte jedesmal das Bett, wenn er etwas werfen wollte, und unter seinem elenden alten Morgenrock sah man

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