«Oh.» Ich wollte ihr nicht das Weihnachtsgeld wegnehmen.

«Willst du etwas davon?» fragte sie.

«Ich will dir dein Weihnachtsgeld nicht wegnehmen.»

«Ich kann dir aber etwas leihen», sagte sie. Dann hörte ich, wie sie an D.B.s Schreibtisch sämtliche Schubladen aufzog und darin herumtastete. Es war stockdunkel im Zimmer. «Wenn du fortgehst, kannst du mich nicht in dem Theaterstück sehen», sagte sie. Ihre Stimme hatte einen komischen Klang.

«Doch, natürlich. Ich geh sicher nicht vorher fort. Meinst du denn, ich wollte auf das Theater verzichten?» sagte ich. «Wahrscheinlich bleib ich ungefähr bis Dienstag abend bei Mr. Antolini. Dann komm ich heim. Wenn ich kann, ruf ich dich vorher an.»

«Da», sagte die gute Phoebe. Sie versuchte mir das Geld zu geben, konnte aber meine Hand nicht finden.

«Wo?»

Sie drückte mir das Geld in die Hand.

«He, ich brauch doch nicht soviel», sagte ich. «Gib mir nur zwei Dollar, mehr nicht. Im Ernst. Da, nimm's wieder.» Ich versuchte es ihr zurückzugeben, aber sie wollte es nicht nehmen.

«Du kannst alles behalten. Du kannst es mir ja dann zurückgeben. Bring's ins Theater.»

«Wieviel ist es denn, um Himmels willen?»

«Acht Dollar und fünfundachtzig Cents - nein, fünfundsechzig Cents. Ich hab etwas davon ausgegeben.»

Dann fing ich plötzlich an zu heulen. Ich konnte nicht anders. Ich heulte zwar so leise, daß mich niemand hören konnte, aber ich heulte doch richtig. Die gute alte Phoebe bekam natürlich einen Mordsschrecken, als ich anfing zu heulen, und kam zu mir und wollte mich trösten, aber wenn man einmal angefangen hat, kann man nicht im nächsten Augenblick aufhören. Ich saß immer noch auf dem Bettrand, und Phoebe schlang mir die Arme um den Hals, und ich legte auch einen Arm um sie, aber ich konnte doch lange nicht aufhören. Ich dachte, ich würde ersticken oder was weiß ich. Herr im Himmel, der armen Phoebe jagte ich einen Mordsschrecken ein. Das verdammte Fenster stand offen, und ich spürte, wie sie vor Kälte zitterte, weil sie nur im Pyjama war. Ich versuchte sie wieder ins Bett zu befördern, aber sie wollte nicht. Schließlich hörte ich doch auf, aber jedenfalls dauerte es sehr lang. Dann knöpfte ich mir den Mantel zu und so. Ich sagte, ich würde mit ihr in Verbindung bleiben. Sie sagte, ich könnte bei ihr im Bett schlafen, aber ich antwortete, es wäre besser, wenn ich jetzt ginge, weil dieser Mr. Antolini auf mich warte. Dann zog ich die Jagdmütze aus der Tasche und gab sie ihr. Sie hat solche verrückten Mützen gern. Sie wollte sie nicht nehmen, aber ich bestand darauf. Höchstwahrscheinlich hat sie die ganze Nacht mit der Mütze auf dem Kopf geschlafen. Sie hat so komische Mützen gern. Dann sagte ich noch einmal, ich würde mit ihr telefonieren, sobald ich Gelegenheit hätte, und dann ging ich weg.

Aus der Wohnung herauszukommen fand ich aus verschiedenen Gründen viel einfacher als das Hineinkommen. Erstens war es mir jetzt absolut gleichgültig, ob sie mich erwischen würden.

Wirklich. Ich dachte, wenn sie mich erwischten, dann sollten sie mich eben erwischen. Es wäre mir irgendwie fast willkommen gewesen.

Ich fuhr diesmal nicht mit dem Lift, sondern ging die ganze Treppe zu Fuß hinunter. Über die Hintertreppe. Ich hätte mir an den ungefähr zehn Millionen Mülleimern fast den Hals gebrochen, aber zu guter Letzt war ich glücklich unten. Der Liftboy bekam mich gar nicht zu Gesicht. Vermutlich denkt er, ich wäre heute noch oben bei den Dicksteins.

24

Mr. und Mrs. Antolini hatten eine sehr elegante Wohnung am Sutton Place, mit einem Wohnzimmer, das zwei Stufen tiefer lag als der Eingang, und einer Bar und so. Ich war schon mehrmals dort gewesen, denn nachdem ich von Elkton Hills fortgegangen war, hatte Mr. Antolini ziemlich oft bei uns zu Abend gegessen, um über mich auf dem laufenden zu bleiben. Damals war er noch nicht verheiratet. Später spielte ich oft mit ihm und Mrs. Antolini Tennis - im West Side Tennis Club in Forest Hills, Long Island. Mrs. Antolini stammte von dort. Sie hatte einen Haufen Geld. Sie war ungefähr sechzig Jahre älter als er, aber offenbar vertrugen sie sich ganz gut. Erstens einmal waren beide sehr gebildet, richtige Intellektuelle, hauptsächlich Mr. Antolini - nur wirkte er eigentlich eher witzig als intellektuell, wenn man mit ihm zusammen war, so ähnlich wie D.B. Mrs. Antolini war meistens ernst. Sie hatte ziemlich schlimmes Asthma. Beide hatten alle Kurzgeschichten von D.B. gelesen, auch Mrs. Antolini, und als D.B. nach Hollywood ging, telefonierte Mr. Antolini mit ihm und sagte, er solle nicht dorthin gehen. Er ging dann aber doch. Mr. Antolini sagte, wenn jemand so schreiben könne wie D.B., habe er nichts in Hollywood zu suchen. Das ist praktisch dasselbe, was ich auch gesagt hatte.

Ich wäre zu Fuß gegangen, weil ich Phoebes Weihnachtsgeld für nichts ausgeben wollte, was nicht unbedingt nötig war, aber als ich ins Freie kam, fühlte ich mich ganz sonderbar. Irgendwie schwindlig. Deshalb nahm ich ein Taxi. Sehr ungern, aber ich nahm doch eines. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich überhaupt eines fand.

Als mich der Liftboy - dieser Hund - endlich hinaufgefahren hatte, läutete ich an der Wohnung. Mr. Antolini machte in Morgenrock und Pantoffeln auf. Er war ein ziemlich intellektueller Typ und trank im allgemeinen ziemlich viel.

«Holden, da bist du!» sagte er. «Mein Gott, er ist schon wieder einen halben Meter gewachsen. Schön, daß du kommst.»

«Wie geht es Ihnen, Mr. Antolini? Und wie geht's Mrs. Antolini?»

«Beiden vorzüglich. Her mit dem Mantel.» Er zog mir den Mantel aus und hängte ihn auf. «Ich hatte erwartet, einen Säugling in deinen Armen zu sehen. Ohne Heim, ohne Obdach. Schneeflocken auf deinen Wimpern.» Manchmal ist er sehr witzig. Er drehte sich um und schrie zur Küche hin: «Lillian! Was macht der Kaffee?» Lillian war Mrs. Antolinis Vorname.

«Schon fertig!» schrie sie zurück. «Ist das Holden? Hallo, Holden!»

«Hallo, Mrs. Antolini!»

In dieser Wohnung schrie man immer, weil die beiden nie zu gleicher Zeit im gleichen Zimmer waren.

Komisch.

«Setz dich, Holden», sagte Mr. Antolini. Offenbar war er ziemlich in Fahrt. Das Zimmer sah so aus, als ob sie gerade eine Einladung gegeben hätten. Überall standen Gläser und Schalen mit Salzmandeln. «Entschuldige diesen Anblick», sagte er. «Wir hatten ein paar Buffalo-Freunde meiner Frau zu Gast... Eigentlich die Büffel selber, müßte man sagen.»

Ich lachte, und Mrs. Antolini schrie mir aus der Küche etwas zu, aber ich konnte sie nicht verstehen.

«Was hat sie gesagt?» fragte ich Mr. Antolini.

«Sie sagte, du dürftest sie nicht anschauen, wenn sie kommt. Sie hat sich gerade erst vom Bett erhoben. Nimm dir eine Zigarette. Rauchst du jetzt?»

«Danke», sagte ich. Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die er mir hinhielt. «Hin und wieder rauche ich mäßig.»

«Das nehme ich an», sagte er. Dabei zündete er sie mit dem großen Feuerzeug an, das auf dem Tisch stand. «So, du und Pencey seid also nicht mehr vereint», sagte er. Er drückte sich immer in dieser Weise aus. Manchmal amüsierte es mich sehr, manchmal aber auch nicht. Er übertrieb diese Art eigentlich ein bißchen. Ich meine damit nicht, daß er nicht witzig

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