beunruhigenden Brief von deinem letzten Rektor bekommen - des Inhalts, daß du dich absolut nicht anstrengtest. Daß du Stunden schwänzt - und dich für keine Lektion vorbereitest. Kurz ausgedrückt, daß du auf der auf der ganzen Linie -»

«Ich habe keine Stunden geschwänzt. Das durfte man nicht. In ein paar bin ich ein paarmal nicht gegangen, aber geschwänzt habe ich keine.»

Ich war nicht in der Stimmung für eine Diskussion. Nach dem Kaffee war es mir im Magen besser, aber ich hatte immer noch diese fürchterlichen Kopfschmerzen.

Mr. Antolini zündete sich wieder eine Zigarette an. Er rauchte unsinnig viel. Dann sagte er: «Offen gesagt, weiß ich gar nicht, was ich dir noch sagen soll, Holden.»

«Ich weiß. Man kann schwer mit mir sprechen, das weiß ich.»

«Ich habe das Gefühl, daß du dich irgendeinem schrecklichen, schrecklichen Sturz näherst. Aber ich könnte nicht sagen, welcher Art... Hörst du mir zu?»

«Ja.»

Offensichtlich versuchte er sich sehr zu konzentrieren.

«Es kann die Art von Herunterkommen sein, daß du im Alter von dreißig Jahren in irgendeiner Bar sitzt und einen Haß gegen jeden fühlst, der so aussieht, als ob er im College Fußball gespielt hätte.

Oder vielleicht eignest du dir auch gerade so viel Bildung an, daß du alle die Leute unerträglich findest, die mir und mich verwechseln. Oder du landest in irgendeinem Büro, wo du die zunächst sitzende Stenotypistin mit Papierklammern bewirfst. Aber verstehst du überhaupt, was ich mit all dem meine?»

«Ja, natürlich», sagte ich. Das stimmte auch. «Aber Sie täuschen sich mit dem, was Sie von Haß gesagt haben. Ich meine, daß ich Fußballspieler und so weiter hassen würde. Ich hasse nicht viele Leute. Vielleicht wären sie mir eine kurze Zeit verhaßt, so wie dieser Stradlater in Pencey und der andere dort, Robert Ackley. Ich gebe das zu, daß ich die manchmal gehaßt habe, aber es dauert nie lang, meine ich. Wenn ich sie eine Zeitlang nicht gesehen hatte, wenn sie nicht in mein Zimmer kamen oder wenn sie sogar ein paarmal nicht unten beim Essen erschienen, dann fehlten sie mir eigentlich.

Ich meine, irgendwie fehlten sie mir.»

Mr. Antolini schwieg eine Weile. Er stand auf und holte sich einen neuen Eiswürfel für seinen Whisky und setzte sich wieder. Man merkte, daß er nachdachte. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er das Gespräch erst am nächsten Morgen fortgesetzt hätte, aber das wollte er offenbar nicht. Die Leute wollen meistens gerade dann reden, wenn man selber keine Lus t hat.

«Schön. Hör mir jetzt einen Augenblick gut zu... Vielleicht kann ich mich nicht so ausdrücken, wie ich gern möchte, aber in den nächsten Tagen will ich dir einen Brief darüber schreiben. Dann kannst du es dir richtig überlegen. Aber hör mir jetzt trotzdem zu.» Er versuchte sich wieder zu konzentrieren. Dann sagte er: «Dieser Sturz oder Abstieg, den ich für dich voraussehe, ist von besonderer Art - eine besonders furchtbare

Art von Sturz. Der Abstürzende selbst fühlt oder hört sich nicht unten aufschlagen. Er fällt und fällt nur. Das gilt für alle die Menschen, die zu irgendeiner Zeit ihres Lebens etwas gesucht haben, das ihre Umwelt ihnen nicht bieten konnte. Oder etwas, wovon sie dachten, daß es ihnen die Umwelt nicht bieten könne. Infolgedessen gaben sie das Suchen auf. Sie gaben es auf, bevor sie überhaupt wirklich angefangen hatten. Kannst du mir folgen?»

«Ja, Sir.»

«Wirklich?»

«Ja.»

Er stand auf und schenkte sich noch einen Rachenputzer ein. Dann setzte er sich wieder. Während längerer Zeit schwieg er.

«Ich möchte dich nicht erschrecken», sagte er. «Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du auf irgendeine Weise zugrunde gehen würdest, und zwar für eine höchst wertlose Sache.» Er warf mir einen komischen Blick zu. «Würdest du es aufmerksam lesen, wenn ich dir etwas aufschreiben würde? Und es behalten?»

«Ja, natürlich», sagte ich. Ich habe das Blatt immer noch, das er mir damals gab.

Er ging an seinen Schreibtisch hinüber und schrieb im Stehen etwas auf ein Blatt. Dann kam er zurück und setzte sich mit dem Blatt in der Hand wieder hin. «Eigenartigerweise stammt es nicht von einem Dichter. Ein Psychoanalytiker namens Wilhelm Stekel hat es geschrieben. Er sagte - Hörst du mir noch zu?»

«Ja, natürlich höre ich zu.»

«Er sagte: <Das Kennzeichen des unreifen Menschen ist, daß er für eine Sache nobel sterben will, während der reife Mensch bescheiden für eine Sache leben möchte. >»

Er beugte sich vor und gab mir das Blatt. Ich las es sofort, und dann dankte ich ihm und steckte es in die Tasche. Es war nett von ihm, sich soviel Mühe zu machen. Wirklich. Aber leider konnte ich mich gar nicht recht konzentrieren. Herr im Himmel, ich war plötzlich so verflucht müde. Mr. Antolini dagegen schien offenbar nicht im geringsten müde zu sein. Er war sogar ganz hübsch aufgedreht.

«Allmählich wirst du dir wohl darüber klarwerden müssen, welche Richtung du einschlagen willst.

Und dann mußt du dich auf den Weg machen. Aber ohne Aufschub. Du kannst es dir nicht leisten, noch eine Minute zu verlieren. Du nicht.»

Da er mich ans ah, nickte ich natürlich, aber es war mir nicht ganz klar, von was er redete. Ich war ziemlich sicher, daß ich ihn richtig verstand, aber doch nicht ganz. Ich war zu verflucht müde.

«Und - das sage ich sehr ungern -» sagte er, «aber ich glaube, sobald du einen Begriff davon hast, in welche Richtung du gehen willst, wird dein erster Schritt darin bestehen, daß du dir in der Schule Mühe gibst. Es geht nicht anders. Du hast zu lernen - ob dir diese Vorstellung nun sympathisch oder unsympathisch ist. Das Wissen liegt dir am Herzen. Und wahrscheinlich wirst du sehen - sobald du dich einmal über alle diese Mr. Vineses und ihren mündlichen Aus -»

«Mr. Vinsons», sagte ich. Er hatte sagen wollen «alle diese Mr. Vinsons», nicht «alle diese Mr. Vineses». Aber ich hätte ihn trotzdem nicht unterbrechen sollen.

«Also gut - die Mr. Vinsons. Sobald du dich einmal über alle die Mr. Vinsons hinwegsetzen kannst, wirst du - vorausgesetzt, daß du es wirklich willst und danach suchst und darauf wartest -immer näher zu den Kenntnissen vordringen, die dir sehr, sehr kostbar sein werden. Unter anderem siehst du dann, daß du nicht der erste Mensch bist, den das Verhalten seiner Mitmenschen verwirrte und bedrückte. Du stehst in der Hinsicht durchaus nicht allein; dieses Wissen wird dich erregen und
anfeuern.

Unzählige Menschen waren schon in derselben moralischen und geistigen Verwirrung, die du jetzt gerade durchmachst. Glücklicherweise haben einige von ihnen darüber Bericht erstattet. Von ihnen wirst du lernen, falls du wirklich willst. Genauso wie eines Tages, wenn du selbst etwas zu bieten hast, auch irgendwelche anderen wieder von dir lernen werden. Das ist eine wunderbare Gegenseitigkeit. Und das ist keine Bildung. Das ist Geschichte. Das ist Poesie! » Er machte eine Pause und nahm wieder einen Schluck Whisky. Dann fing er wieder an. Er war wirklich in Fahrt. Ich war froh, daß ich nicht versucht hatte, ihn zum Aufhören zu bewegen. «Ich will damit nicht sagen, daß nur gebildete Männer imstande wären, der Welt etwas Wertvolles zu geben», sagte er. «Das trifft durchaus nicht zu. Aber ich sage, daß gebildete und gelehrte Männer -vorausgesetzt, daß sie begabt und

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