«Ich weiß», sagte ich. Meine Krawatte gab ich endgültig auf. Ich ging einfach ohne Krawatte weg. «Auf Wiedersehen, Sir», sagte ich. «Vielen Dank, wirklich.»

Er ging hinter mir her, während ich zur Wohnungstür ging, und als ich am Lift läutete, blieb er in dem verdammten Türrahmen stehen. Er sagte nur wieder, daß ich «ein sehr, sehr sonderbarer Bursche» sei. Sonderbar, weiß der Himmel. Dann wartete er im Türrahmen, bis dieser gottverfluchte Lift kam. Ich habe in meinem ganzen verdammten Leben noch nie so lange auf einen Lift gewartet, das schwöre ich.

Ich wußte nicht, über was ich reden sollte, während ich auf den Lift wartete, aber da er immer weiter dort stehenblieb, sagte ich: «Ich will jetzt damit anfangen, ein paar gute Bücher zu lesen. Das habe ich fest vor.» Man mußte doch
irgend etwas
sagen. Es war furchtbar peinlich.

«Also hol deine Koffer und komm gleich zurück. Ich schließe die Tür nicht ab.»

«Danke vielmals», sagte ich. «Auf Wiedersehn!» Der Lift war jetzt endlich ck. Ich stieg ein und fuhr hinunter. Herrgott, ich zitterte wie verrückt. Und schwitzte außerdem. Wenn so etwas passiert, fange ich immer an zu schwitzen. So'n Zeug habe ich mindestens zwanzigmal erlebt, seit ich klein war. Ich kann das nicht ausstehen.

25

Als ich auf der Straße stand, fing es gerade an hell zu werden. Es war ziemlich kalt, aber das fand ich angenehm, weil ich so schwitzte. Ich wußte absolut nicht, was ich tun sollte. Ich wollte in kein Hotel gehen und Phoebes Geld ausgeben. Deshalb ging ich bis zur Lexington Avenue und fuhr von dort mit der Untergrundbahn zu Grand Central Station. Dort waren meine Koffer, und ich dachte, ich könnte in dem blöden Wartesaal auf einer Bank schlafen. Eine Zeitlang war das auch tatsächlich gar nicht so übel, weil nur wenig Leute da waren und ich die Füße auf die Bank legen konnte. Aber ich will nicht weiter davon reden. Es war nicht besonders schön. Freiwillig versuchen soll das niemand. Im Ernst. Man wird nur deprimiert.

Ich schlief nur bis gegen neun Uhr, weil dann haufenweise Leute kamen und ich die Beine von der Bank heruntertun mußte. Mit den Füßen auf dem Boden kann ich nie richtig schlafen. Ich blieb also aufrecht sitzen. Kopfweh hatte ich immer noch. Es war sogar jetzt viel schlimmer. Und ich war deprimierter als in meinem ganzen bisherigen Leben, glaube ich.

Obwohl ich eigentlich nicht wollte, fing ich an, über Mr. Antolini nachzudenken - und was er wohl zu seiner Frau sagen würde, wenn sie fragte, warum ich nicht dort übernachtet hätte. Dieser Punkt machte mir zwar keine Sorgen, denn ich wußte, wie wendig er war. Er konnte leicht irgendeine Erklärung für sie erfinden. Wahrscheinlich sagte er, ich sei nach Hause gegangen oder so. Aber der andere Punkt machte mir Sorgen: daß ich aufgewacht war, weil er mir den Kopf tätschelte oder was weiß ich. Ich meine, ich überlegte mir, ob ich mich wohl damit täuschte, daß er etwas Schwules mit mir vorgehabt hatte. Ob es ihm vielleicht einfach Vergnügen machte, jemandem, der schläft, den Kopf zu tätscheln. Wie soll man mit solchem Zeug sicher sein, daß man sich nicht täuscht? Das kann man nicht. Ich überlegte mir sogar, ob es richtiger gewesen wäre, mein Gepäck zu holen und wieder in seine Wohnung zu fahren, so wie ich es zu ihm gesagt hatte. Ich meine, ich dachte darüber nach, daß er mich jedenfalls sehr freundlich aufgenommen hatte, auch wenn er vielleicht schwul war. Es hatte ihn gar nicht verstimmt, als ich ihn so spät anrief, und er hatte mich aufgefordert, ihn sofort zu besuchen, falls ich dazu Lust hätte. Dann hatte er sich wirklich Mühe gegeben, mir zu raten, daß man seine eigenen geistigen Möglichkeiten und so weiter kennenlernen müsse, und er war damals auch der einzige gewesen, der sich um diesen James Castle gekümmert hatte, als er tot auf der Treppe lag. An das alles dachte ich. Und je mehr ich darüber nachdachte, um so deprimierter wurde ich. Ich hätte vielleicht doch wieder in seine Wohnung gehen sollen. Vielleicht hatte er tatsächlich nur so zum Vergnügen meinen Kopf getätschelt. Jedenfalls fand ich es immer deprimierender und verwickelter, je länger ich darüber nachdachte. Außerdem taten mir die Augen höllisch weh. Sie brannten, weil ich so wenig geschlafen hatte. Und dazu bekam ich einen Schnupfen und hatte nicht einmal ein Taschentuch. In meinen Koffern waren noch ein paar frische, aber ich wollte die Koffer nicht aus dem Gepäckfach holen und sie vor allen Leuten auspacken.

Auf der Bank neben mir hatte jemand ein Magazin liegenlassen, und ich blätterte darin, weil ich dachte, daß ich dann Mr. Antolini und einen Haufen anderes Zeug wenigstens für kurze Zeit vergessen würde. Aber der erste blöde Artikel, den ich zu lesen anfing, machte es fast noch schlimmer. Er war über Hormone. Es wurde beschrieben, wie man aussehen sollte -das Gesicht und die Augen und alles -, wenn die Hormone intakt wären, und ich sah absolut nicht so aus. Auf mich paßte die Beschreibung von dem Kerl in dem Artikel, bei dem die Hormone nicht in Ordnung sind. Ich fing an, mir über meine Hormone Sorgen zu machen. Dann las ich einen Artikel darüber, wie man feststellen könne, ob man Krebs habe. Wenn man wunde Stellen im Mund habe, die nicht sofort heilen, hieß es, dann sei das ein Zeichen, daß man vermutlich Krebs habe. Und ich hatte ja seit gut zwei Wochen innen an der Lippe eine wunde Stelle. Deshalb vermutete ich, daß ich Krebs bekäme. Dieses Magazin war wirklich ein kleiner «Aufmunterer». Schließlich legte ich es weg und ging spazieren. Ich dachte, daß ich wahrscheinlich in ein paar Monaten an Krebs sterben würde.

Ganz im Ernst. Ich war überzeugt davon. Das besserte meine Stimmung absolut nicht.

Draußen sah es so aus, als ob es bald regnen würde, aber ich machte trotzdem einen Spaziergang.

Erstens einmal dachte ich, daß ich irgend etwas frühstücken sollte. Ich hatte gar keinen Hunger, aber ich dachte, ich müßte doch wenigstens etwas essen. Wenigstens irgend etwas mit Vitaminen. Ich ging in östlicher Richtung, wo die billigen Restaurants sind, weil ich möglichst wenig Geld ausgeben wollte.

Auf dem Weg kam ich an zwei Burschen vorbei, die von einem Lastwagen einen großen Tannenbaum abluden. Der eine rief immer: «Heb den verdammten Hund doch höher! Halt ihn doch höher, Herrgott noch mal!» Das war wirklich eine herrliche Art, über einen Christbaum zu reden. Es klang schrecklich, aber dabei auch komisch, so daß ich lachen mußte. Das war schlimm, denn sobald ich zu lachen anfing, hatte ich das Gefühl, daß ich mich übergeben müsse. Tatsächlich. Ich fing schon fast damit an, aber dann kam es doch nicht dazu. Ich weiß nicht warum. Ich meine, ich hatte ja nichts Unverdauliches oder so gegessen, und im allgemeinen habe ich einen sehr guten Magen. Jedenfalls ging es also vorbei, und ich dachte, wahrscheinlich würde es mir gut tun, etwas zu essen. Ich setzte mich also in ein sehr billig aussehendes Restaurant und bestellte Zuckersemmeln und Kaffee. Die Semmeln aß ich dann zwar nicht. Ich hätte sie nicht gut schlucken können. Wenn man sehr deprimiert ist, kann man eben nicht mehr richtig schlucken. Der Kellner war aber sehr freundlich. Er nahm sie wieder weg und ließ mich nicht dafür bezahlen. Ich trank nur den Kaffee. Dann ging ich fort und machte mich auf den Weg zur Fifth Avenue.

Es war Montag, schon fast Weihnachten, und alle Geschäfte waren offen. Die Fifth Avenue machte keinen zu üblen Eindruck. Es war sogar recht weihnachtlich. Alle die verwahrlost aussehenden Nikolausmänner standen an den Straßenecken und läuteten mit ihren Glöckchen, und auch die Heilsarmeemädchen, die keinen Lippenstift und so weiter benutzen, läuteten mit Glöckchen. Ich hielt eigentlich immer Ausschau nach den beiden Nonnen, die ich am Sonntag beim Frühstück getroffen hatte, aber ich entdeckte sie nirgends. Ich wußte zwar, daß sie nicht auftauchen würden, weil sie mir ja gesagt hatten, daß sie als Lehrerinnen nach New York gekommen waren, aber ich suchte sie trotzdem fortwährend. Jedenfalls war es also plötzlich ganz weihnachtsmäßig. Millionen von kleinen Kindern waren mit ihren Müttern in

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