der Stadt, stiegen aus Omnibussen oder kletterten hinein und drängten sich an den Geschäftseingängen. Ich hätte Phoebe gern dabeigehabt. Sie ist zwar nicht mehr so klein, daß sie in den Spielwarenabteilungen außer sich geriete, aber es macht ihr großen Spaß, so herumzustrolchen und die Leute anzuschauen. Vorletztes Jahr nahm ich sie um diese Zeit zum Einkaufen mit. Wir verbrachten einen tollen Nachmittag. Ich glaube, es war bei Bloomingdale.

Wir gingen in die Schuhabteilung und behaupteten, daß sie -die gute Phoebe - ein Paar von diesen hohen Schnürstiefeln brauche, die mindestens eine Million Ösen haben. Der arme Verkäufer wurde halb wahnsinnig. Phoebe probierte ungefähr zwanzig Paar Schuhe an, und der arme Teufel mußte jedes bis zuoberst zuschnüren. Es war ein gemeiner Streich, aber Phoebe war hingerissen. Schließlich kauften wir ein Paar Mokassins. Der Verkäufer blieb sehr freundlich. Er bemerkte, glaube ich, daß wir nur Unsinn machten, weil Phoebe immer zu kichern anfängt.

Ich ging immer weiter und weiter die Fifth Avenue entlang ohne Krawatte und so. Plötzlich fing etwas Unheimliches Jedesmal wenn ich eine Nebenstraße kreuzen mußte und von dem verdammten Randstein hinuntertrat, hatte ich das Gefühle, daß ich die andere Straßenseite nicht erreichen könne. Es war, als ob ich hinunter, hinunter, hinunter sinken müßte und mich kein Mensch je wieder sehen würde. Ich bekam einen schönen Schrecken. Niemand kann sich das vorstellen. Ich schwitzte wie ein Idiot - mein ganzes Hemd und die Wäsche und alles wurde tropfnaß. Dann fing ich an, bei jeder Kreuzung so zu tun, als ob ich mit meinem Bruder Allie spräche.

Ich sagte: «Allie, laß mich nicht verschwinden. Allie, laß mich nicht verschwinden. Bitte Allie.» Und wenn ich glücklich auf der andern Seite ankam, ohne zu verschwinden, würde ich ihm danken. Nach dem nächsten Häuserblock fing es wieder von vorne an. Aber ich ging doch weiter. Vermutlich fürchtete ich mich vor dem Stehenbleiben - ich erinnere mich nicht mehr genau, ehrlich gesagt. Aber ich weiß noch, daß ich noch fast bis zur Seventeenth Street und weit über den Zoo hinausging. Dann setzte ich mich auf eine Bank. Ich konnte kaum atmen und schwitzte blödsinnig. Dort blieb ich ungefähr eine Stunde lang sitzen, glaube ich. Schlußendlich beschloß ich, wirklich wegzugehen.

Ich wollte nie mehr nach Hause und nie mehr in eine Schule gehen. Nur Phoebe wo llte ich noch einmal sehen und mich von ihr verabschieden und ihr das Geld zurückgeben, und dann wollte ich nach Westen trampen. Ich dachte, ich könnte zum Holland Tunnel gehen und mich dort von einem Auto mitnehmen lassen und dann vom nächsten und so weiter, bis ich nach ein paar Tagen irgendwo im Westen ankäme, wo es schön und sonnig wäre und mich niemand kennen würde. Dort fände ich sicher Arbeit in irgendeiner Tankstelle und könnte den Leuten Benzin und Öl in ihre Autos füllen, dachte ich. Es war mir auch gleichgültig, welche Art von Arbeit ich finden würde.

Wenn mich nur niemand kannte und ich auch keinen Menschen kannte. Ich dachte mir aus, daß ich mich taubstumm stellen würde. Auf diese Weise brauchte ich keine verdammten, blöden, nutzlosen Gespräche mit irgend jemand zu führen. Falls jemand mir etwas mitzuteilen hatte, mußte er es eben auf einen Zettel schreiben. Das würde die Leute bald langweilen, dachte ich, und dann hätte ich für den Rest meines Lebens alle Gespräche hinter mir. Alle würden mich für einen armen taubstummen Hund halten und mich in Ruhe lassen. Ich müßte nur Benzin und Öl in ihre blöden Autos füllen und bekäme ein Gehalt dafür, und von dem verdienten Geld würde ich mir irgendwo eine kleine Blockhütte bauen und dort für den Rest meines Lebens bleiben. Die Hütte müßte am Waldrand stehen, aber nicht im Wald drinnen, damit sie immer ganz sonnig wäre. Ich würde mir selber kochen, und später, falls ich heiraten wollte oder so, würde mir dieses schöne Mädchen begegnen, ebenfalls eine Taubstumme, und wir würden heiraten. Sie würde zu mir in die Blockhütte ziehen, und wenn sie mir etwas zu sagen hätte, müßte sie es auf einen verdammten Zettel schreiben, so wie alle andern auch. Falls wir Kinder bekämen, würden wir sie irgendwo verstecken. Wir könnten ihnen viele Bücher kaufen und sie selber Lesen und Schreiben lehren.

Diese Vorstellung erregte mich. Im Ernst. Ich wußte zwar, daß der Punkt mit der angeblichen Taubstummheit verrückt war, aber die Vorstellung gefiel mir doch sehr. Jedenfalls war ich entschlossen, nach dem Westen zu fahren. Ich wollte mich nur vorher noch von Phoebe verabschieden, sonst nichts. Deshalb rannte ich plötzlich wie besessen über die Straße - ich wurde dabei fast überfahren, falls das jemand interessiert - und kaufte in einem Schreibwarengeschäft einen Notizblock und einen Bleistift. Ich wollte Phoebe schreiben, wo sie mich treffen solle, damit ich mich von ihr verabschieden und ihr das Weihnachtsgeld zurückgeben könne, und dann wollte ich mit dem Blatt in die Schule gehen und jemanden im Büro bitten, es ihr zu geben. Vorläufig steckte ich Notizblock und Bleistift nur in die Tasche und lief so schnell ich konnte in ihre Schule. Ich war zu aufgeregt, um die Nachricht schon in dem Geschäft zu schreiben. Ich beeilte mich deshalb so, weil sie meine Botschaft bekommen sollte, bevor sie zum Essen heimging, und es war schon ziemlich spät.

Natürlich wußte ich, wo die Schule war, weil ich selber früher auch dorthin gegangen war. Als ich hinkam, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich war nicht sicher gewesen, ob ich mich noch an alles erinnerte, aber tatsächlich hatte sich nichts verändert. Es war noch genau so wie damals. Innen lag der große Hof, in dem es immer dunkel war, und die Lampen waren mit einem Gitter geschützt, damit sie nicht in Stücke gingen, wenn ein Ball dagegen flog. Auf dem Boden waren immer noch die gleichen weißen Kreise für Spiele und so, und die gleichen Korbballringe ohne Netze daran, nur die Bretter mit den Ringen.

Ich sah keinen Menschen, vermutlich weil die große Pause vorbei war und die Mittagspause noch nicht angefangen hatte. Nur ein kleiner Negerjunge begegnete mir auf dem Weg zu den Toiletten. In seiner Hüfttasche steckte eine Art Passierschein aus Holz, genau wie wir ihn damals gehabt hatten, zum Zeichen, daß man mit Erlaubnis der Lehrerin auf die Toilette ging. Ich schwitzte immer noch, aber nicht mehr ganz so stark. Ich setzte mich im Gang auf die unterste Treppenstufe und zog den Notizblock heraus. Die Treppe roch noch genau wie früher, so als ob einer draufgepinkelt hätte.

Diese Schulhaustreppen haben immer diesen Geruch. Ich schrieb:

Liebe Phoebe,

ich kann doch nicht mehr bis Mittwoch warten, und wahrscheinlich mache ich mich heute nachmittag auf den Weg nach Westen. Warte um Viertel nach zwölf an der Tür vom

Kunstmuseum auf mich, wenn Du kannst; dann gebe ich Dir Dein Weihnachtsgeld zurück. Ich habe nicht viel ausgegeben.

Viele Grüße Holden

Die Schule war ganz nah beim Museum, und da Phoebe auf dem Heimweg ohnedies daran vorbeikam, wußte ich, daß sie mich leicht dort treffen konnte.

Dann ging ich die Treppe hinauf zum Rektorzimmer, um das Blatt jemandem zu geben, der es Phoebe in ihr Klassenzimmer bringen konnte. Ich faltete es mindestens zehnmal, damit es niemand aufmachte. In diesen elenden Schulen kann man keinem trauen. Aber wenn sie hörten, daß ich ihr Bruder war, gaben sie es sicher weiter.

Während ich die Treppe hinaufging, hatte ich plötzlich wieder das Gefühl, daß ich mich übergeben müßte. Aber es kam wieder nicht dazu. Ich setzte mich einen Augenblick, und daraufhin wurde es mir besser. Aber als ich dort saß, sah ich etwas, das mich verrückt machte. Jemand hatte «dich...» an die Wand geschrieben. Das machte mich wirklich fast verrückt. Ich stellte mir vor, wie Phoebe und alle die andern Kinder es lesen und darüber nachdenken würden, was es bedeutete, bis es ihnen schließlich irgendein kleiner Schmutzfink erklärte - natürlich ganz verzerrt. Und dann würden sie erst recht darüber nachdenken und vielleicht sogar ein paar Tage lang bedrückt sein. Ich hätte den Urheber gerne umgebracht. Vermutlich war es irgendein perverser Strolch, der sich abends oder nachts in die Schule geschlichen hatte, um dort zu pinkeln. Ich malte mir aus, wie ich ihn dabei erwischen und ihm den Kopf solange auf die Steintreppe schlagen würde,

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