bis er blutüberströmt und tot und fertig wäre, verflucht noch mal. Aber ich wußte gleichzeitig, daß ich den Mut dazu nicht hätte. Ich wußte es genau! Das deprimierte mich noch mehr. Ich hatte sogar kaum den Mut, das Wort mit der Hand wegzureiben, falls jemand die Wahrheit wissen will. Ich hatte Angst, daß mich jemand dabei überraschen könnte und dann denken würde, ich hätte es selber geschrieben.

Immerhin rieb ich es schließlich trotzdem aus. Dann ging ich in das Rektorzimmer.

Die Vorsteherin war offenbar nicht da, aber eine ungefähr hundertjährige Dame saß an der Schreibmaschine. Ich sagte, ich sei Phoebe Caulfields Bruder, Klasse 46-1, und bat sie, doch bitte Phoebe meinen Zettel zu geben. Es sei sehr wichtig, weil meine Mutter krank sei und nicht für das Mittagessen sorgen könne, und Phoebe müsse mich deshalb zum Lunch in einem Restaurant treffen.

Die alte Dame war sehr freundlich. Sie nahm den Zettel und rief ein Fräulein aus dem Büro, worauf dieses Fräulein mit dem Zettel fortging. Dann schwätzte ich ein bißchen mit der hundertjährigen Dame. Sie war wirklich sehr nett, und ich sagte, daß sowohl ich wie meine Brüder hier in die Schule gegangen seien. Sie fragte, in welcher Schule ich denn jetzt sei, und als ich Pencey nannte, sagte sie, das sei eine ausgezeichnete Schule. Selbst wenn es mir wichtig gewesen wäre, hätte ich nicht die Kraft gehabt, ihr das auszureden. Außerdem sollte sie Pencey ruhig für eine ausgezeichnete Schule halten, wenn das ihre Ansicht war. Ich sage hundertjährigen Leuten lieber nichts Neues. Sie hören es doch nicht gern. Nach ein paar Minuten ging ich weg. Komisch, sie schrie mir «Viel Glück!» nach, genau wie der alte Spencer, als ich mich in Pencey von ihm verabschiedete. Großer Gott, ich kann das nicht ausstehen, wenn mir jemand «Viel Glück!» nachschreit. Ich finde es deprimierend.

Ich ging über eine andere Treppe hinunter und sah wieder «dich...» an der Wand. Ich wollte es wieder mit der Hand wegreiben, aber diesmal war es mit einem Messer oder was weiß ich in die Wand gekratzt. Man konnte es nicht wegreiben. Es ist ohnedies hoffnungslos. Auch wenn man tausend Jahre

Zeit hätte, könnte man nicht die Hälfte von all den «dich...» auf der Welt zum Verschwinden bringen. Ganz unmöglich.

Auf der Uhr im Hof war es erst zwanzig vor zwölf. Es blieb mir also noch viel Zeit totzuschlagen, bevor Phoebe kommen konnte. Ich ging zum Museum hinüber. Ich wußte nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Ich dachte, ich könnte vielleicht in einer Telefonkabine noch Jane Gallagher anrufen, bevor ich nach Westen fuhr, aber ich war nicht in der richtigen Stimmung. Außerdem wußte ich auch gar nicht sicher, ob sie schon zu Hause war. Ich ging also nur ins Museum und lungerte dort herum.

Während ich drinnen am Eingang wartete, kamen zwei kleine Jungen und fragten mich, wo die Mumien seien. Der eine - der mich fragte - hatte seine Hosen offen. Ich sagte es ihm. Daraufhin knöpfte er sie sofort vor mir zu - er fand es nicht einmal nötig, sich hinter einen Pfeiler oder so zu stellen. Furchtbar komisch. Ich hätte gern gelacht, aber ich hatte Angst, daß es mir dann wieder übel würde. «Wo sind die Mumien, du?» fragte er noch einmal. «Weißt du das?»

Ich neckte die beiden ein bißchen. «Die Mumien? Was ist das?» fragte ich.

«Weißt du, die Mumien - die, die tot sind. Die in der Kluft begraben sind.» Kluft, das warf mich um.

Er meinte Gruft.

«Warum seid ihr beide nicht in der Schule?» fragte ich.

«Wir haben heute keine Schule», sagte der Wortführer. Er log so sicher, wie ich am Leben bin, der kleine Gauner. Weil ich nichts zu tun hatte, bis Phoebe kommen konnte, suchte ich mit ihnen die Mumien. Herrgott, ich hatte doch früher genau gewußt, wo sie waren, aber ich war seit Ewigkeiten nicht mehr im Museum gewesen.

«Interessiert ihr euch denn so für Mumien?» sagte ich.

«Ja.»

«Kann dein Freund nicht reden?»

«Er ist nicht mein Freund. Er ist mein Bruder.»

«Kann er nicht reden?» Dabei schaute ich den andern an, der nie ein Wort von sich gab. «Kannst du nicht reden?» fragte ich.

«Doch», sagte er. «Hab aber keine Lust.»

Schließlich fanden wir den Raum, wo die Mumien sind, und gingen hinein.

«Weißt du, wie die Ägypter ihre Toten begraben haben?» fragte ich den einen.

«N-n.»

«So, es ist aber sehr interessant. Sie haben ihnen das Gesicht in Tücher gewickelt, die mit irgendwelchen chemischen Geheimmitteln durchtränkt waren. Auf diese Weise konnten sie tausend Jahre in den Gräbern liegen, ohne daß sie verwesten und so. Niemand weiß, wie man das machen muß, nur die Ägypter. Nicht einmal die modernen Wissenschaftler.»

Zu den Mumien führte ein schmaler Gang mit Steinplatten an den Wänden, die direkt aus einem Pharaonengrab stammten. Es war ziemlich unheimlich, und wahrscheinlich gefiel es den beiden Helden nicht übermäßig. Sie hielten sich auffallend nah an mich, und der eine, der nie etwas sagte, packte mich sogar am Ärmel. «Komm, wir gehn», sagte er zu seinem Bruder. «Ich hab sie schon gesehen. Komm doch, he.» Er machte kehrt und lief weg.

«Der hat es aber mit der Angst bekommen!» sagte der andere und lief ebenfalls weg.

Ich blieb also allein in dem Grab zurück. Es gefiel mir irgendwie. Es war so schön friedlich. Aber niemand kann sich vorstellen, was ich plötzlich an der Wand sah. Wieder ein «dich...». Jemand hatte es mit einem roten Stift unter den

Steinplatten, also unter den Glasscheiben an die Mauer geschmiert.

Das ist es eben. Man kann nirgends einen friedlichen Ort finden, weil es keinen gibt. Manchmal weint man, es gebe einen, aber wenn man hinkommt, und an nichts dergleichen denkt, schmiert einem jemand «dich...» direkt vor die Nase. Ich glaube, wenn ich jemals sterbe und sie mich auch auf einen Friedhof schleppen und mir einen Grabstein und so hinsetzen, wird «Holden Caulfield» daraufstehen und die Jahreszahl, wann ich geboren wurde und gestorben bin, und darunter schreibt dann sicher jemand «dich...». Davon bin ich überzeugt.

Als ich aus dem Mumienraum kam, mußte ich in die Toilette. Weil ich so eine Art Durchlall hatte, falls jemand die ganze Wahrheit wissen will. Der Durchfall war mir ziemlich gleichgültig, aber als ich aus der Toilette kam, wurde ich gerade vor der Tür ohnmächtig. Dabei hatte ich noch Glück, ich meine, ich hätte mir ja beim Umfallen den Hals brechen können, aber ich landete nur auf der Seite.

Komischerweise war es mir nachher besser. Tatsächlich. Der Arm tat mir zwar etwas weh, aber ich war nicht mehr so schwindlig.

Unterdessen war es ungefähr zehn nach zwölf. Ich ging also wieder an die Tür und wartete auf Phoebe. Ich dachte, daß ich sie jetzt vielleicht zum letztenmal sehen würde. Ich meine, ich stellte mir vor, daß ic h meine Verwandten zwar irgendwann wiedersehen würde, aber sicher viele Jahre lang nicht. Vielleicht käme ich zurück, wenn ich fünfunddreißig oder so wäre, dachte ich, falls jemand krank würde und mich vor seinem Tod noch einmal sehen wollte, aber jedenfalls würde ich meine Blockhütte nur aus diesem einzigen Grund verlassen. Ich malte mir sogar meine Rückkehr aus.

Meine Mutter wäre natürlich wahnsinnig aufgeregt und würde weinen und mich bitten, daß ich dableiben und nicht wieder in meine Blockhütte gehen solle, aber ich

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