war eine Ratte. Ich hoffe, es war eine Ratte. Aber da ist noch etwas.«

Sie entnahm meinem Tonfall, dass ich es vollig ernst meinte, und sah mich an.

»Heute Morgen habe ich im Garten einen Mann gesehen.«

»Oh, ja? Was fur einen Mann? Nicht zufallig Mr. Brough? Er kommt manchmal vorbei, um das Unkraut aus dem Fischteich zu entfernen.«

»Wie sieht er aus?«

»Oh ... er ist so um die funfundsechzig oder siebzig. Normalerweise tragt er einen weiten Strohhut und Khakishorts.«

»Nein, er war es nicht. Der Mann war viel junger, er war in Schwarz gekleidet. Und er trug einen hohen schwarzen Hut. Das Merkwurdige daran ist, dass es im Fortyfoot House ein altes Foto gibt, auf dem ein Mann zu sehen ist, der fast genauso aussieht wie der Mann von heute Morgen.«

»Der junge Mr. Billings«, sagte die Frau bestimmt.

»Sie kennen ihn?«, fragte ich uberrascht.

»Ja und nein. Ich wei? von ihm. Aber ich kenne ihn nicht in der Weise, dass ich mich mit ihm unterhalten konnte. Das kann man auch nur schlecht, wenn jemand schon tot war,

bevor man selbst auf die Welt kommt. Aber das war auf jeden Fall der junge Mr. Billings.«

In diesem Moment betrat Liz das Cafe. Mit dem Licht im Rucken sah sie noch zierlicher und strahlender aus als zuvor.

»Danny sagt, er wurde gerne was trinken.«

»Wir gehen jetzt gleich zuruck zum Haus. Da kann er ein Glas Orangensaft bekommen.«

»Du guckst, als hattest du was verloren«, sagte Liz.

»Vermutlich meinen Verstand. Doris glaubt, dass der Mann, den ich heute Morgen im Garten gesehen habe, jemand mit Namen Billings war, der starb, bevor sie geboren wurde.«

»Was?«, sagte Liz spottisch, dann an Doris gewandt: »Ich dachte, Sie glauben nicht an Geister.«

»Es war nicht Mr. Brough«, gab Doris zuruck.

»Mr. Brough ist der Mann, der den Teich sauber macht«, erlauterte ich.

»Es war der junge Mr. Billings«, wiederholte Doris. Sie stand auf, nahm ein Tablett mit Salz-und Pfefferstreuern und verteilte sie mit viel Larm auf den Tischen. »Es gab einen alten Mr. Billings und einen jungen Mr. Billings. Der, den Sie gesehen haben, war der junge Mr. Billings.«

»Aber wer sind die beiden?«, wollte ich wissen. »Oder besser gesagt: Wer waren die beiden?«

Doris stellte die letzten Streuer ab und begann, mit einem Plastikkorb voller Besteck noch mehr Larm zu verursachen. »Der alte Mr. Billings grundete Fortyfoot House, und als er jung starb, ubernahm es der junge Mr. Billings. Das hat mir meine Mutter immer erzahlt. Meine Mutter hat im Haus sauber gemacht. Das war naturlich lange nachdem auch der junge Mr. Billings gestorben war. Aber zu der Zeit gab es noch viele Leute, die wussten, was sich zugetragen hatte. Vor nicht allzu langer Zeit stand in der Zeitung ein Artikel uber Fortyfoot House. Der alte Mr. Billings und der junge Mr. Billings. Es war aber der junge Mr. Billings, der den ganzen Arger ausgelost hatte.«

»Welchen Arger?«, fragte ich.

Danny kam herein und sagte: »Daddy ... ich mochte zum Strand runtergehen.«

»Iss erst dein Eis auf. Und zieh dir die Strumpfe aus. Ich wei? gar nicht, warum du uberhaupt Strumpfe tragst.«

»Mom sagt, dass ich sie tragen soll, damit meine Fu?e nicht riechen. Wenn ich nur Sandalen trage, riechen meine Fu?e.«

»Also gut.« Ich seufzte. »Aber zieh sie aus, bevor du zum Strand runtergehst, klar?«

Doris stand bei uns. Wahrend sie sprach, fingerte sie an ihrem Ehering. Fast so, als sei er ein Rosenkranz und als sage sie ihre Gebete auf. Der Wind wehte warm und roch nach Seetang. Die Sonne wurde in den kleinen Tumpeln reflektiert, so wie Stucke eines zerschlagenen Spiegels.

»Der alte Mr. Billings hat - glaube ich - mit Zucker ein Vermogen verdient. Er war ein Freund von Dr. Barnardo, damals, als Dr. Barnardo noch im London Hospital arbeitete. Als Dr. Barnardo seine ersten Heime fur obdachlose Jungs eroffnete, hielt der alte Mr. Billings das fur eine so gute Idee, dass er Fortyfoot House baute. Es war ein Waisenhaus, damit arme Kinder aus dem Londoner East End herkommen und am Meer leben konnten.«

»Jetzt, wo Sie es erwahnen, glaube ich, dass ich davon mal gehort habe«, sagte ich zu ihr. »Hie? es zu Beginn nicht Billings Home?«

Doris nickte. »Das ist richtig. Und es hatte auch einen guten Ruf. Sogar Konigin Viktoria besuchte es. Aber nach zwei oder drei Jahren starb der alte Mr. Billings, oder er wurde ermordet. Das wei? niemand so genau. Es hei?t, dass ihm irgendetwas ganz Entsetzliches zustie?. Der junge Mr. Billings ubernahm das Waisenhaus, aber es war nicht mehr so wie zuvor. Bestimmte Leute gingen dort ein und aus. Einen Kerl gab es, der angeblich das Fortyfoot House besucht hatte, der hatte ein Gesicht, das wie mit braunem Fell uberzogen war und dessen Anblick niemand aushalten konnte. Jedenfalls sagte das meine Mutter immer. Als ich noch klein war, hat sie mich mit ihren Geschichten fast zu Tode erschreckt.«

Sie machte eine kurze Pause. »Und dann - ich wei? nicht, in welchem Jahr - starben alle Waisenkinder innerhalb von zwei oder drei Wochen. Niemand fand je heraus, was mit ihnen geschehen war. Angeblich soll es eine Nacht gegeben haben, als in dem Haus alle moglichen Gerausche zu horen und seltsame Lichter zu sehen waren. Die Menschen schrien in Sprachen, die niemand verstehen konnte. Am nachsten Morgen wurde der junge Mr. Billings wahnsinnig angetroffen. Es hei?t, dass er vollkommen verruckt war. Einfach vollig durchgedreht. Er erzahlte, er habe eine andere Welt besucht und Dinge gesehen, die schrecklicher waren als alles, was je ein Mensch gesehen hatte. Und es wurde immer schlimmer, er wurde immer verruckter. Nach drei Jahren wurde er in Newport eingewiesen, aber er erhangte sich in seiner Zelle. Das war zwar sein Ende, aber seitdem hat sich jeder, der in Fortyfoot House gelebt hat, uber die Gerausche und die Lichter beklagt. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Und ich wei?, warum die Tarrants ausgezogen sind.«

Ich warf Liz einen langen nuchternen Blick zu. Mit jedem weiteren Wort horte sich die Geschichte immer starker nach Seemannsgarn an. Gut fur die Touristen. Geeignet fur einen spaten Sommerabend, wenn die Sonne lange Schatten wirft. Ich fuhlte mich dagegen in meiner Ansicht bestarkt, dass -sofern uberhaupt etwas mit Fortyfoot House nicht stimmte -es seine starke Ausstrahlung war, das intensive Gefuhl einer Verbindung zur Vergangenheit. Es hatte nichts mit Geistern oder Lichtern zu tun. Oder mit >Dingen, die schrecklicher sind als alles, was je ein Mensch zuvor gesehen hat<.

Ich gab Doris einen Funfer und sagte, sie solle das Wechselgeld behalten.

Als wir das Strandcafe verlie?en, kam sie hinter uns her zum vorderen Ausgang und sagte: »Halten Sie die Augen offen und passen Sie auf sich auf. Wenn Sie ein helles Licht sehen, dann sollten Sie um Ihr Leben rennen. Jedenfalls wurde ich das an Ihrer Stelle tun.«

»Danke fur den Tip«, sagte ich und ergriff Liz' Hand.

Wir stiegen den steilen Pfad zuruck zum Gartentor hinauf. Es war mittlerweile hei? geworden, und die Luft roch intensiv nach frischem Teer und Nesseln. Wir gingen unter den Baumen hindurch uber die Brucke zuruck in den Garten. In der sengenden Hitze sah das Haus noch seltsamer aus als zuvor. So als sei es nichts weiter als ein hell beleuchtetes Gemalde.

Liz blieb stehen. »Nimmst du Untermieter auf?«, fragte sie.

»Ich wei? nicht. Ich wei? nicht mal, ob ich das darf.«

»Nein, nein, ich habe nicht meinetwegen gefragt. Ich habe blo? jemanden aus einem der oberen Fenster herausschauen sehen.« Ich blieb stehen und hielt meine Hand uber die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. Soweit ich das sehen konnte, waren alle Fenster schwarz und leer. »Welches Fenster war es?«, fragte ich sie.

»Das da, gleich unter dem Dach.«

»Und wie hat dieser Jemand ausgesehen?«

»Ich wei? nicht, irgendwie blass.«

»Blass?«

»Na ja, wei?, richtig wei?. Vielleicht hat sich was gespiegelt.«

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