»Oh, sicher. Soll ich spater wiederkommen?«

Im selben Moment wurde ich vom Erscheinen eines wei?haarigen Mannes in der Tur unterbrochen. Er stopfte gerade ein Hemd in seine braune Hose. Sein Nase war so verdreht, als sei sie in dem Moment gegen eine Glasscheibe gedruckt worden, in dem der Wind gewechselt hatte. Harry Martin, in voller Lebensgro?e.

»Ich habe mitgekriegt, dass Sie nach mir gefragt haben«, sagte er. »Mein Schlafzimmerfenster ist gleich hier oben, da konnte ich Sie gar nicht uberhoren.«

»Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht storen.«

Er offnete das Gartentor. »Macht doch nichts. Kommen Sie rein.«

Mrs. Martin machte Platz, wahrend Harry Martin mich ins Wohnzimmer schob. Das Zimmer war chronisch zu klein. Velourstapete, Sessel, uber die Schondecken gelegt worden waren, ein Sideboard voller Blechnippes und Porzellanballerinas. Ein riesiger Fernseher fullte eine Wand aus, und auf dem Tisch aus den sechziger Jahren, auf dem er stand, stapelten sich monatealte Ausgaben der TV Times.

»Setzen Sie sich«, sagte er, und ich befolgte seine Aufforderung.

»Ich habe Probleme mit Ratten«, erklarte ich. »Besser gesagt, mit einer Ratte. Einer ziemlich gro?en.«

»Hmm«, sagte er. »Ich schatze, die Gemeindeverwaltung hat Sie direkt an mich verwiesen.«

»Das stimmt.«

»Einen Vollzeitjob wollen sie mir nicht geben, das konnen sie sich nicht leisten. Das hat alles mit dieser Kopfsteuer zu tun. Ich habe ihnen gesagt, dass ich keine Ratten mehr fange, aber sie schicken die Leute trotzdem zu mir. Ich mache jetzt in Gartenarbeit, das ist sicherer.«

»Ich wurde Sie ja auch bezahlen«, sagte ich.

»12,50 Pfund. Au?erdem Materialkosten, wenn ich zum Beispiel ein defektes Abflussrohr ersetzen oder ein Loch schlie?en muss.«

»Klingt akzeptabel.«

Harry Martin nahm eine Tabakdose vom Tisch neben seinem Sessel, offnete sie und begann, sich eine Zigarette zu drehen, ohne hinzusehen.

»Und wo steckt Ihre Ratte?«

»Auf dem Dachboden.«

»Ja, aber wo? Auf welchem Dachboden?«

»Oh, entschuldigen Sie. Im Fortyfoot House.«

Harry Martin hatte ein Streichholz angerissen, um seine selbst gedrehte Zigarette anzuzunden, doch als er >Fortyfoot House< horte, hielt er in seiner Bewegung inne und starrte mich an, wahrend das Streichholz weiterbrannte. Die Zigarette hing unangezundet im Mund.

Erst als ich »Achtung!« rief, bemerkte er es, blies das Streichholz aus und offnete die kleine Schachtel, um ein neues herauszuholen.

»Ich bin den Sommer uber in Fortyfoot House«, erklarte ich. »Mr. und Mrs. Tarrant wollen es verkaufen, und ich erledige einige Reparaturen.«

»Ich verstehe ... und ich hatte davon gehort, dass sie es verkaufen wollten. Wenn Sie meine Meinung horen wollen ... es ware besser, das ganze verdammte Ding einfach abzurei?en.«

»Ich mochte nicht behaupten, dass ich da anderer Meinung bin. Aber ich soll es leer raumen und renovieren, und als Erstes mochte ich diese Ratte loswerden.«

Harry Martin zundete die Zigarette an und blies den dicken aromatischen Rauch in die Luft. »Aber Sie haben sie gesehen, diese Ratte?«

Ich schuttelte den Kopf. »Nur ungenau. Sie sah ziemlich gro? aus.«

»Sie ist ziemlich gro?«, versicherte er mir.

»Sie wissen davon?«

»Naturlich. Jeder in der Gegend um Bonchurch und Old Shanklin Village wei? davon. Neulinge naturlich ausgenommen.«

Ich war erstaunt. »Jeder wei? davon?«

»Jeder wei? davon, aber niemand redet daruber, das ist alles.«

»Und warum nicht?«

»Wenn man daruber redet, dann muss man auch daruber nachdenken. Und das will keiner.«

»Wie lange ist sie schon da?«, fragte ich beunruhigt.

»Die Ratte war schon da, als ich ein kleiner Junge war«, antwortete Harry Martin schulterzuckend. »Ich bin jetzt siebenundsechzig. Sind Sie gut im Kopfrechnen?«

Ich begann zu vermuten, dass Harry Martin mich auf den Arm nehmen wollte. Bei diesen alten Kerlen muss man auf der Hut sein. Sie lieben es, andere aufzuziehen. Ihre Geschichten werden mit jedem neuen Dreh schrager und schrager, und ehe man sich versieht, grinsen sie einen schelmisch an, bis man erkennt, dass man ihnen auf den Leim gegangen ist.

»Ratten leben normalerweise nicht so lange, oder? Ich bin mal mit einem Freund durch die Londoner Kanalisation gegangen, und er sagte, dass sie meistens nur drei oder vier Jahre alt werden, wenn uberhaupt.«

»Fortyfoot House hat nichts mit der Londoner Kanalisation zu tun, stimmt's?«, erwiderte Harry Martin. »Und das hier ist keine normale Ratte. Es gibt sogar einige Leute, die glauben, dass es sich uberhaupt nicht um eine Ratte handelt.«

Irgendwie lie? die Normalitat des mit Mobeln voll gestellten Salons diese Worte ausgesprochen beunruhigend wirken. Die Sonne schien auf die Oberseite des Fernsehers und beleuchtete ein Schiffssteuerrad mit einem imitierten Aquarium in der Mitte. Bienen flogen durch die geoffneten Fenster ein und aus. »Keine Ratte?<, wunderte ich mich. Wie meinte er das? Moglicherweise nahm er mich auf den Arm. Aber sein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht machte einen vollig ernsten Eindruck. Und wenn es ein Witz sein sollte, dann entging mir die Pointe.

»Was ist es dann?«

Harry Martin schuttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich habe mir auch noch nie die Muhe gemacht, es herauszufinden.«

»Haben die Tarrants Sie nie gebeten, die ... das Ding fortzuschaffen?«

»Die Tarrants waren dafur gar nicht lange genug dort. Sie haben es spottbillig gekauft, weil es so lange Zeit leer gestanden hatte. Sie hatten gro?e Plane. Ein Swimmingpool, Anbauten, was Sie wollen. Dann erlebten sie einige schlechte Nachte, danach blieben sie nicht mehr so oft da. Und dann gab es eine richtig uble Nacht, und seitdem sind sie nie wieder dort geblieben.«

»Was meinen Sie mit einer »richtig ublen Nacht<?«

Harry Martin blies Zigarettenrauch in die Luft, wahrend sein Gesichtsausdruck nichts davon verriet, was er dachte. »Lichter und Larm. Grelles Licht. Und Gerausche, die man nicht beschreiben kann. Und Stimmen, die viel lauter waren als normale Stimmen.«

Ich lehnte mich zuruck. »Jemand hat mir davon erzahlt. Eine Frau namens Doris, unten im Strandcafe.«

»Oh, ja, die arme alte Doris. Sie war eine Belcher, mussen Sie wissen, bevor sie in die Randalls einheiratete.«

»Ich furchte, dass mir das uberhaupt nichts sagt.«

»Das wurde es, wenn Sie in Bonchurch geboren waren. Die Belchers waren ein lustiges Volkchen. Mr. Belcher, also der Vater von Doris, war der ortliche Schuldirektor. Und George Belcher - ihr Bruder — machte viel Geld mit irgendeinem patentierten Lack fur Boote. Aber er war immer etwas sonderbar. Er sagte, er habe die Ratte am helllichten Tag gesehen, aber naturlich wollte ihm niemand glauben.«

»Lebt er noch?«

»George? Nein, der nicht. Tabletten und Whisky besiegelten sein Schicksal. Tabletten und Whisky.«

Mrs. Martin kam von der Veranda herein und fragte, ob wir eine Tasse Tee haben wollten. Harry Martin sagte ja, ohne mich zu fragen, woraufhin uns Mrs. Martin ein Tablett mit Biskuits und zwei Tassen gesu?ten Tee brachte.

»Und was soll ich mit dieser Ratte machen?«, fragte ich Harry Martin. »Immer vorausgesetzt, es ist eine Ratte. Oder auch, wenn es keine ist.«

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